Willensfreiheit


Im dritten Teil seiner Ethik hat Hartmann eine Theorie der Freiheit entwickelt, die er auch in seinen späteren Schriften ohne wesentliche Veränderungen vertreten hat. Seine Grundidee, dass Freiheit in einer geschichteten Welt bestehen kann, ohne dass die Kategorie der Determination verletzt wird, verstand Hartmann als den akzeptablen ontologischen Kern von Kants Freiheitslehre. Seine Auseinandersetzung mit dem Freiheitsproblem war daher vor allem an Kant orientiert. Obwohl er sich in seinen Darlegungen auf zeitgenössische Positionen kaum bezieht, haben für die Entwicklung seiner Auffassung die neukantianischen Positionen eine wichtige Rolle gespielt. Wie weit dafür auch positivistische, lebens- und existenzphilosophische Positionen wichtig waren, ist nur schwer zu beurteilen. Auf jeden Fall lohnt es sich, Hartmanns Theorie auch mit solchen Positionen zu vergleichen. Im Folgenden soll Hartmanns Freiheitstheorie durch Vergleiche mit den Auffassungen von Windelband, Cohen, Natorp, Cassirer, Mach, Schlick, Bergson und Jaspers beleuchtet werden.

9.1. Neukantianismus

9.1.1. Wilhelm Windelband

Eine wichtige neukantianische Freiheitstheorie hat Wilhelm Windelband in seinen 1904 veröffentlichten Vorlesungen Über Willensfreiheit vertreten. Hartmann hat diese Theorie sehr wahrscheinlich gekannt, doch bezieht er sich nicht explizit auf sie.

Windelband unterscheidet drei Phasen der Willensbildung, denen drei verschiedene Begriffe von Freiheit korrespondieren. Die erste Phase besteht in dem Zustandekommen eines besonderen Willens. Ihr entspricht das Problem der Freiheit des Wollens. Die zweite Phase betrifft die Wahl zwischen verschiedenen Willensregungen und markiert das Problem der Freiheit des Wählens. In der dritten Phase vollzieht sich schließlich der Übergang von der Wahl zur Handlung. Ihr entspricht die Freiheit des Handelns. (vgl. Windelband 1904, S.17f) Von diesen Aspekten der Willensbildung unterscheidet Windelband noch die ethische Freiheit, die er in der Übereinstimmung des Willens mit sittlichen Werten sieht. - Hartmann unterscheidet zwar Handlungs- und Willensfreiheit und spricht auch von Wahlfreiheit, ohne jedoch Wahlfreiheit noch einmal ausdrücklich von Willensfreiheit abzugrenzen. An der Dreiteilung Windelbands hat er sich somit nicht orientiert.

Die Freiheit des Handelns besteht nach Windelband darin, tun zu können, was man will. Diese Art der Freiheit fehlt überall, wo es ein Tun ohne Wollen (wie bei Reflexen) oder ein Wollen ohne Tun (wie bei bloßen Wünschen) gibt. Freiheit des Wählens gibt es dort, wo zwischen verschiedenen Begierden, die miteinander im Wettstreit liegen und die nicht gleichzeitig realisiert werden können, durch vernünftige Überlegung entschieden wird. Nun ist jedoch nach Windelband auch ein solches anscheinend freies Wählen im Grunde doch determiniert, da bei jeder Wahl stets das stärkste Motiv sich durchsetzt. Jede Wahl geht eben aus der Situation, die die Motive liefert, und dem Charakter der Person notwendig hervor. Was jedoch jeweils das stärkste Motiv ist, zeigt sich freilich erst nach der Wahl in der ausgeführten Handlung. (vgl. Windelband 1904, S.21, 32, 36ff) Der Begriff der Wahlfreiheit erhält damit bei Windelband eine deterministische Fassung und reduziert sich auf die Fähigkeit der Person, in einer Situation ihren Charakter im Handeln zur Geltung zu bringen. (vgl. Windelband 1904, S.76, 78) Der Begriff der Wahlfreiheit ist damit vom Begriff der Handlungsfreiheit kaum noch unterschieden. - Hartmann hat sich zur Freiheit der Wahl widersprüchlich geäußert. Einerseits will er auch das Wählen als determiniert betrachten, andererseits kann er jedoch auf freies Wählen (zwischen Werten) letztlich nicht verzichten.

Windelband wendet sich ausdrücklich gegen das grobe Missverständnis, als sei das menschliche Wollen allein von der äußeren Situation abhängig. Den Popanz eines bloß äußeren Determinismus weist er zwar zurück, doch bezeichnet er die von ihm vertretene Position wenig glücklich als inneren Determinismus, womit er das umgekehrte Missverständnis nahe legt, als sei das Wählen nur durch psychische Faktoren bestimmt. (vgl. Windelband 1904, S.74ff) - Windelbands Ausführungen zum äußeren und inneren Determinismus haben eine Parallele in Hartmanns Äußerungen zur äußeren und inneren Freiheit, die auch nicht immer die nötige Klarheit erreichen.

Windelband kritisiert auch die Versuche, die Freiheit des Wählens durch einen Indeterminismus stützen zu wollen. Wenn der Indeterminist sage, dass der Wille sich unabhängig von allen Motiven entscheide, so sei damit keine ursachlose Entscheidung gemeint, weil Ursachlosigkeit mit Zufälligkeit gleichbedeutend sei und damit für Verantwortlichkeit gerade nichts gewonnen sei. In Wahrheit gehe es dem Indeterministen jedoch darum zu behaupten, dass der ganz persönliche Wille die Ursache der Entscheidung sei, nur zögere er dieses letztentscheidende Wollen auch als motivbestimmt zu betrachten. (vgl. Windelband 1904, S.76f) - Was Windelband hier über die Motivation und die argumentative Situation des Verteidigers der Willensfreiheit sagt, ist in gewisser Weise eine Antizipation des Dilemmas von Hartmanns Theorie der personalen Determinante. Während Windelband den personalen Faktor ganz der Kausalität unterwirft, schwankt Hartmann gerade in dieser entscheidenden Frage, weil er einerseits das Determinismusprinzip in seiner Allgemeinheit nicht antasten will, andererseits aber doch auf die Freiheit der Wahl letztlich nicht verzichten kann.

Freiheit des Handelns und des Wählens (im deterministischen Sinne) ist nach Windelband die Voraussetzung für Verantwortlichkeit. Wie Handlungsfreiheit von der Funktionsfähigkeit des Nervensystems abhänge, so sei Wahlfreiheit an die intakte Tätigkeit des Gehirns gebunden. Wahlfreiheit könne insbesondere durch Trunkenheit, Hypnose, Affekte oder Zwang zu plötzlichen Entscheidungen beeinträchtigt werden. (vgl. Windelband 1904, S.83ff) Verantwortlichkeit liegt nach Windelband überall vor, wo das Wesen einer Person sich im Handeln ausdrücken kann. Wer also bei reiflicher Überlegung sich für etwas entscheidet, ist wahlfrei. Wird jemand für sein Handeln verantwortlich gemacht, so impliziert dies keineswegs die These, dass er auch hätte anders handeln können. Verantwortlich machen impliziert vielmehr nur die moralische Beurteilung einer Handlung einerseits und die Motivierung zukünftigen Handelns andererseits. (vgl. Windelband 1904, S.91, 218) - Hartmann macht demgegenüber Verantwortlichkeit nicht von Handlungsfreiheit, sondern von Willensfreiheit (und Wahlfreiheit) abhängig. Verantwortlichkeit ohne die Möglichkeit, anders handeln zu können, ist für ihn eine bloße Fiktion. Ja, er versucht bekanntlich, aus den moralischen Phänomenen der Selbstbestimmung, der Zurechnung und des Schuldgefühls auf das Bestehen der Willensfreiheit zurückzuschließen.

Das Problem der Freiheit des Wollens betrifft nach Windelband sowohl die Entstehung des konkreten Wollens in einer Situation als auch die bleibende individuelle Art des Wollens, die sich im Charakter zeigt. Da jedes konkrete Wollen jedoch aufgrund der Situation und des Charakters determiniert ist, verschiebt sich für ihn (wie schon für Schopenhauer) das ganze Problem auf den Charakter. Das Problem der Freiheit des Wollens erweist sich damit als die metaphysische Frage, ob man für seinen Charakter verantwortlich ist. Windelband verweist auf metaphysische Theorien der Person, die das im Charakter sich ausdrückende konstante Wollen als ursachlose Ursache betrachten und der Person damit eine kausale Ursprünglichkeit zugeschrieben. (vgl. Windelband 1904, S.107f, 115ff, 122ff) Gegen einen solchen metaphysischen Freiheitsbegriff, der den Wesenskern der Person zum „unverursachten Urbestand der Realität“ rechnet, wendet Windelband ein, dass eine Person in diesem Sinne individualitätslos wäre und damit gerade als Instanz von Verantwortlichkeit ungeeignet wäre. (vgl. Windelband 1904, S.154ff, 163) - Diese Zuspitzung des metaphysischen Problems des freien Willens zur Frage des ursprünglich freien Charakters findet sich bei Hartmann nicht. Das Argument der fehlenden Individualität verwendet Hartmann allerdings gegen die idealistischen Freiheitstheorien, wenn er ihnen vorwirft, das verantwortliche Subjekt in einen transzendentalen, unpersönlichen Bereich zu verlegen und damit, gegen ihre Absicht, Verantwortlichkeit gerade unmöglich zu machen.

Auch Kants Lehre vom intelligiblen Charakter darf nach Windelband nicht als metaphysische Zweiweltenlehre interpretiert werden. (vgl. Windelband 1904, S.183, 189) Einen akzeptablen Sinn erhalte die Kantische Lehre dagegen, wenn man Ding an sich und Erscheinung erkenntnistheoretisch als zwei gleichberechtigte Betrachtungsweisen der Welt verstehe. Der kausalen Betrachtungsweise der Wissenschaften stehe die moralische Betrachtungsweise gegenüber. Indem die moralische Betrachtung von aller kausalen Bedingtheit absehe, erhalte der Begriff der Freiheit als Ursachlosigkeit einen haltbaren Sinn. Freilich setzt die moralische Beurteilung einer Handlung nach Windelband voraus, dass die Person frei im Wählen und Handeln war, aber nach den Ursachen des Wollens frage das ethische Urteil gerade nicht mehr. Dies bedeutet nach Windelband jedoch keineswegs, dass die moralische Betrachtung eine bloße Fiktion wäre. Die Errungenschaft der Kantischen Lehre bestehe gerade darin, dass beide Betrachtungsweisen verschiedene, aber gleichberechtigte Strukturierungen der Realität liefern. Die fiktionalistische Deutung wäre nur korrekt, wenn die kausale Deutung ein adäquates Bild der Realität liefern würde. Auf einen solchen Anspruch müsse jedoch seit Kant verzichtet werden. Der transzendentale Idealismus gibt dem Begriff der Freiheit des Wollens damit einen akzeptablen Sinn als (kausalfreie) moralische Betrachtungsweise. (vgl. Windelband 1904, S.197, 199, 201ff, 210ff) - Im Gegensatz zu Windelbands erkenntnistheoretischer Deutung der intelligiblen Freiheit Kants deutet Hartmann Kants Freiheitslehre ontologisch als Überformung der niederen Schichten durch eine personale Determinante. Während Windelband eine konsistente Deutung der Kantischen Freiheitslehre entwickelt, die aber durch den Verzicht auf den Realismus erkauft ist, machen sich in Hartmanns ontologischer Deutung die Schwierigkeiten der Zweiweltenlehre geltend.

9.1.2. Hermann Cohen

Wie Cohen mit seiner Logik der reinen Erkenntnis (1902) die konsequente Entfaltung des transzendentalen Idealismus geben wollte, so sollte seine Ethik des reinen Willens (1904) die konsequente Realisierung der Kantischen Ethik sein. Insbesondere soll auch Kants Freiheitslehre von den Resten der alten Metaphysik gesäubert werden und eine rein ethische Form erhalten.

Das Freiheitsproblem versteht Cohen als Problem der praktischen Philosophie. Im Altertum habe man Freiheit im Gegensatz zur Sinnlichkeit gedacht, und im Mittelalter sei Freiheit ein Attribut Gottes gewesen. (vgl. Cohen 1904, S.286f) Erst in der Neuzeit sei dagegen Freiheit als Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft ins Zentrum gerückt und damit zu einer staatlich-rechtlichen Frage geworden. Indem man jedoch auch den Menschen als soziales Wesen der Kausalität unterworfen dachte und ihn damit zu einem Naturwesen im weiteren Sinne gemacht habe, sei Freiheit problematisch geworden. (vgl. Cohen 1904, S.289ff) - Mehr als Hartmann betrachtet Cohen das Freiheitsproblem im Kontext von Ethik und Rechtsphilosophie. Zwar behandelt Hartmann es innerhalb seiner Ethik, doch ist es für ihn ausdrücklich das metaphysische Problem der Ethik. Probleme der Rechtsphilosophie spielen dagegen bei ihm so gut wie keine Rolle. In dieser Fassung als metaphysisches Problem zeigt sich Hartmanns Interesse an einer ontologischen Verankerung der Freiheit.

Die Freiheit des Menschen wurde nach Cohen traditionell meist als Potenz oder reale Macht einer (von der Materie verschiedenen) Seele oder eines absoluten Ich gedacht, sodass Freiheit eine Eigenschaft des metaphysischen Wesens der Person war. Solche metaphysische Freiheitskonzeptionen habe Kant grundsätzlich überwunden, indem er Freiheit als transzendentale Idee gefasst habe. Der Sinn von Kants Auflösung der Freiheitsantinomie besteht nach Cohen darin, dass alle Gegenstände der Erfahrung und der Wissenschaften determiniert sind, während Freiheit als Idee (oder „Hypothesis“) der Ethik postuliert wird. Statt diese Freiheitskonzeption jedoch konsequent zu entwickeln, habe Kant sich mit seiner Lehre vom intelligiblen Charakter wieder der metaphysischen Ich-Konzeption genähert. (vgl. Cohen 1904, S.314f, 316ff) Nur in seinen ethischen Schriften habe Kant seine neue Konzeption als Lehre von der Autonomie konsequent entfaltet, ohne freilich deutlich gemacht zu haben, dass der Begriff der Autonomie den alten metaphysischen Freiheitsbegriff ersetzen solle. Die Pointe der Autonomiekonzeption besteht nach Cohen gerade darin, dass Freiheit nunmehr keine Frage des absoluten Anfangs einer Handlung mehr ist, sondern eine Frage des Ursprungs des Sittengesetzes durch Selbstgesetzgebung. Eine Handlung ist dann frei, wenn sie gemäß dem kategorischen Imperativ einen absoluten Zweck verfolgt, indem sie einen (oder mehrere) Menschen als Selbstzweck behandelt. Der Mensch ist nach Cohen also frei, wenn er sittlich handelt. Die Möglichkeit der Ethik beruht daher allein auf der Möglichkeit des Sittengesetzes und nicht auf einer metaphysischen Freiheit der Person. (vgl. Cohen 1904, S.318ff) - Diese moralphilosophische Umdeutung des Freiheitsbegriffs Kants hat Hartmann entschieden abgelehnt. Freiheit ist für ihn stets die Freiheit zum Guten und Bösen. Gegen die Cohensche Fassung der Freiheit als bloße Idee (oder „Hypothesis“) der Ethik hat er ausdrücklich die ontologische Fassung der Freiheit als reale Macht gestellt. Freiheit gibt es für ihn nur, wenn eine personale Determinante in die niederen Schichten der Realität eingreift und den Realprozess damit überformt. Auch wenn es bei Hartmann letztlich unklar bleibt, ob diese personale Determinante selber determiniert oder indeterminiert ist, versucht er doch gerade die von Cohen als erledigt betrachtete ontologische Deutung der Freiheit zu rehabilitieren.

9.1.3. Paul Natorp

Bei Natorp finden sich verschiedene Versuche, Willensfreiheit zu rechtfertigen. In seiner Schrift Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme (1911) versucht er die Annahme der Willensfreiheit von der Position des logischen Idealismus aus zu rechtfertigen. Ausgangspunkt ist dabei, dass alle Erkenntnis qua gedanklicher Bestimmung von Gegenständen stets vorläufig und bedingt ist. Weil aber alle Bestimmtheit nur unter bestimmten Bedingungen gelte, werde man durch keine Schranke der Erfahrung daran gehindert, den menschlichen Willen als frei zu betrachten. Die nur bedingt gültigen Bestimmungen der wissenschaftlichen Erkenntnis haben nach Natorp angesichts der unbedingten Geltung der Moral zurückzutreten. (vgl. Natorp 1911, S.69) - Für den Realisten Hartmann kommt eine solche erkenntnistheoretische Rechtfertigung der Willensfreiheit, die sich nur auf die Unabschließbarkeit des Wissens stützt, nicht in Frage.

In der Festschrift zu Cohens 70. Geburtstag (1912) hat Natorp den Aufsatz „Willensfreiheit und Verantwortlichkeit“ veröffentlicht, in dem er einen etwas anders gearteten Rechtfertigungsversuch unternimmt. Sein Ziel ist es hier, durch eine Kritik relevanter Begriffe die Jurisprudenz von der Last der metaphysischen Frage der Willensfreiheit zu befreien. Natorp möchte das Problem von Willensfreiheit und Verantwortlichkeit in einer praktisch befriedigenden Weise lösen, ohne die metaphysische Dimension dieser Frage aufzuwerfen und zu beantworten. (vgl. Natorp 1912, S.203) Im Gegensatz zu Cohen wird damit von Natorp das metaphysische Problem ausgeklammert und nicht als überwunden oder sinnlos verworfen. - Hartmann rollt die Freiheitsfrage dagegen gerade als metaphysisches Problem auf und weist pragmatische Auswege entschieden zurück. Freiheit soll ontologische Realität haben und nicht bloß ein praktisches Postulat sein.

In diesem Aufsatz wendet sich Natorp gegen die Verallgemeinerung der kausalen Methode der Naturwissenschaften in einen metaphysischen Determinismus. Eine solche Position, die Willensfreiheit für ihn ausschließt, betrachtet er als nicht akzeptabel, weil es erstens nicht erwiesen sei, dass die kausale Methode der Naturwissenschaften die einzig zulässige Methode der Wissenschaften sei, und weil es zweitens nicht gerechtfertigt sei, eine wissenschaftliche Methode in ein absolutes Gesetz der Dinge umzudeuten. (vgl. Natorp 1912, S.204) - Hartmann lehnt eine solche methodologisch-erkenntnistheoretische Entschärfung des Determinismus entschieden ab. Die Verallgemeinerung des in den Naturwissenschaften vorausgesetzten Kausalprinzips zur Fundamentalkategorie der Determination macht gerade ein zentrales Stück seiner ontologischen Konzeption aus.

Eine Entscheidung ist nach Natorp frei, wenn sie autonom ist, wenn sie also nicht durch die gegebene Situation allein schon bestimmt ist, sondern durch eine bewusste Wahl zwischen Motiven erfolgt. Als verantwortlich gilt ihm daher jemand, der fähig ist, seine Handlungen nach sittlichen Maximen bewusst zu bestimmen. (vgl. Natorp 1912, S.216, 220) Wie bei Cohen besteht Freiheit bei Natorp in der Übereinstimmung der Handlung mit dem Sittengesetz. Ja, „freier Wille“ ist für ihn sogar ein Pleonasmus, weil jede Entscheidung, die der Natur des Willens gemäß ausfällt, als frei gelten muss. Voraussetzung für Willensfreiheit und Verantwortlichkeit ist nach Natorp lediglich, dass aus den gegebenen kausalen Faktoren der „Erfolg dem Wollenden selbst nicht bestimmt sei.“ (Natorp 1912, S.207) Er bezeichnet Freiheit damit zwar als „Nichtvorausentschiedenheit“, doch wie wenig später deutlicher wird, ist dies ein epistemologischer Begriff. Unbestimmtheit eines Handelns gibt es nur für das Stadium der Erwägung vor der erfolgten Entscheidung. (vgl. Natorp 1912, S.218) Indem Natorp zugesteht, dass es, „absolut betrachtet“, gar keine offenen Möglichkeiten gibt, zeigt sich, dass er Willensfreiheit ablehnt. Dass er trotz der Anerkennung des Determinismus noch von Willensfreiheit redet, liegt vor allem daran, dass dieser Begriff sich für ihn auf den Begriff der Verantwortlichkeit reduziert. Natorp sieht im Determinismus auch kein Hindernis für die Anerkennung von Willensfreiheit und Verantwortlichkeit, weil die absolute Determination des Willens nur die bedeutungsleere, unerreichbare Fiktion sei, dass alles erkannt werden könne. In diesem Sinne einer Unkenntnis der absoluten Determination des Willens hat auch der Begriff des Anderskönnens nach Natorp Sinn und Berechtigung. (vgl. Natorp 1912, S.208, 218f) - Natorp vertritt damit im Ansatz einen epistemischen Indeterminismus, wie er später von Max Planck vertreten wurde, aber Hartmanns ontologischer Orientierung völlig fremd ist. In seinem ontologischen Ansatz spielt die Idee der Freiheit als praktische Unwissenheit der eigenen Determination keine Rolle. Auch die bei Natorp sich findende Tendenz, sich mit Handlungsfreiheit zufrieden zu geben, ist Hartmann fremd. Die Tendenz des späten Natorp zur Ontologie, die in diesem Aufsatz bereits deutlich zu spüren ist, dürfte Hartmanns Neigungen zur Ontologie bestärkt haben.

9.1.4. Ernst Cassirer

In seiner Schrift Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik (1936) hat Cassirer sich auch mit dem Freiheitsproblem auseinandergesetzt. Cassirer wendet sich zunächst gegen alle Versuche, die Quantenphysik für die Anerkennung der Willensfreiheit in Anspruch zu nehmen. Quantensprünge haben für ihn nichts mit einer freien Wahl gemeinsam, weil es eine freie Wahl nur dort gibt, wo zwischen verschiedenen offen stehenden Möglichkeiten bewusst gewählt werden kann. Die Rede von der „Freiheit des Elektrons“ sei daher bloß metaphorisch. (vgl. Cassirer 1926, S.357f, 371) Eine durch den Indeterminismus der Physik ermöglichte Freiheit wäre im Übrigen ein Danaergeschenk für die Ethik, das die Verantwortlichkeit menschlichen Handelns aufheben würde, weil ein aufs Geratewohl agierender Mensch nicht als sittliche Person betrachtet werden könnte. (vgl. Cassirer 1926, S.364f) - Als Hartmann seine Freiheitskonzeption entwickelte, war der Indeterminismus der Quantenphysik noch kein drängendes philosophisches Problem. Daher findet sich bei ihm auch keine Diskussion der Bedeutung des Indeterminismus für die Freiheitsfrage.Sittliche Freiheit kann nach Cassirer keine bloße (durch Lücken in der Kausalkette gegebene) negative Unbestimmtheit sein, sondern sie muss, wie er fast wörtlich mit Hartmann sagt, eine eigene positive Kraft sein, die das handelnde Subjekt in die Natur einbringt. Solche Kräfte oder Gründe des sittlichen Handelns seien jedoch in keiner kausalen Erklärung anzutreffen, sei diese nun deterministisch oder statistisch. Es ist daher nach Cassirer für das Freiheitsproblem völlig irrelevant, ob das Naturgeschehen durch deterministische oder statistische Gesetze beherrscht wird. Freiheit erfordere vielmehr einen neuen Gesichtspunkt oder eine neue Art von Gesetzlichkeit, die nicht auf Naturkausalität zurückführbar sei. (vgl. Cassirer 1926, S.358f) - Anders als Hartmann vertritt Cassirer damit die Auffassung, dass es auf Determinismus oder Indeterminismus des Naturgeschehens gar nicht ankommt, wenn Freiheit der Einfluss eines geistigen Faktors auf das Naturgeschehen sein soll.

Wenngleich die damit von Cassirer ins Auge gefasste Lösung des Freiheitsproblems zunächst noch ontologisch klingt, ja geradezu an Hartmann erinnert, hat er sich doch für eine erkenntnistheoretische Deutung der Kantischen Lehre (ganz ähnlich wie Windelband) ausgesprochen. Den entscheidenden Punkt an Kants Lösung sieht er darin, dass jede menschliche Handlung zugleich als Glied der Kausalkette und als Tat eines intelligiblen Wesens betrachtet werden kann. Die Vereinbarkeit von Naturnotwendigkeit und Freiheit lasse sich jedoch nur aufrechterhalten, wenn man die zwei korrelativen Formen der Bestimmbarkeit (nämlich durch die Natur und das Sittengesetz) nicht als metaphysische Thesen über das absolute Sein, sondern transzendental als zwei verschiedene Betrachtungsweisen begreife. Kausalität und Freiheit sind nicht zwei Weisen metaphysischer Bestimmung, sondern zwei Weisen methodischer „Bestimmbarkeit“ - nämlich als Sein und Sollen. (vgl. Cassirer 1926, S.360ff, 371, 375f) - Cassirer vertritt damit die erkenntnistheoretisch orientierte neukantianische Freiheitslehre, der Hartmann seine ontologische Deutung gegenüberstellt. Bemerkenswert ist, dass bestimmte Passagen fast ontologisch im Sinne Hartmanns klingen, bevor Cassirer sie schließlich mit seiner neukantianischen Lösung idealistisch ausdeutet.

9.2. Positivismus

9.2.1. Ernst Mach

Mach hat sich mit dem Problem der Willensfreiheit nur am Rande auseinandergesetzt, am deutlichsten noch in seiner Schrift Erkenntnis und Irrtum (1905). Obwohl Hartmann sich auf Mach nirgends unmittelbar bezieht, dürfte ihm Machs Leugnung der Willensfreiheit doch bekannt gewesen sein.

Mach ist entschiedener Anhänger des Determinismus und hat für Willensfreiheit keinen Platz. Einfache Selbstbeobachtung zeigt für ihn, dass wir nicht Herren darüber sind, welche Erinnerungen in uns auftauchen und welche unser Handeln bestimmen. Der Mensch ist daher auch in seinen Willkürhandlungen ein Automat, wie die einfachsten Organismen es sind. Verantwortlich ist das Handeln eines Menschen, wenn sein Urteilsvermögen hinreichend entwickelt ist, um bei seinen Entschlüssen die Folgen seiner Handlungen hinreichend in Betracht zu ziehen. Unsere Handlungen erscheinen nur wegen der Komplexität der Umstände als unberechenbar und frei. Willensfreiheit lässt sich nach Mach zwar nur schwer widerlegen, aber sie ist für ihn methodologisch unhaltbar, da der Determinismus die Voraussetzung wissenschaftlicher Forschung ist. Mach betrachtet den Determinismus auch als Voraussetzung der Statistik. (vgl. Mach 1905, S.26ff) - Hartmann ist ebenfalls ein entschiedener Anhänger des Determinismus, doch finden sich bei ihm keine Anklänge an einen epistemischen Indeterminismus. Wie Mach hat Hartmann aber den Determinismus als Voraussetzung der Wissenschaften, insbesondere auch der Statistik, betrachtet.

9.2.2. Moritz Schlick

Schlick hat in seiner Schrift Fragen der Ethik (1930) auch zum Problem der Willensfreiheit Stellung genommen und dabei eine an Hume orientierte Position bezogen. Zu der wenige Jahre zuvor erschienenen Ethik Hartmanns hat Schlick sich jedoch nicht geäußert, obwohl er sie vermutlich gekannt hat.

Das Problem der Willensfreiheit ist für Schlick ein Scheinproblem, das nur durch sprachliche Missverständnisse zu einem viel erörterten philosophischen Problem geworden sei, das tatsächlich jedoch eine ganz einfache Lösung erlaube. (vgl. Schlick 1930, S.155) Schlick kritisiert daher die traditionelle Auffassung, dass Determinismus Freiheit und Verantwortlichkeit aufhebt. Verantwortlichkeit setzt für ihn nur die Freiheit des Handelns voraus. - Die positivistische These, dass das Problem der Willensfreiheit ein Scheinproblem sei, hat Hartmann vermutlich zur Kenntnis genommen, ohne sich in seinen späteren Schriften mit ihr auseinanderzusetzen. Diese These war ihm völlig fremd, hat er doch die metaphysischen Probleme immer wieder als wirkliche Probleme herauszustellen versucht. Außerdem ist Hartmann stets ein Anhänger der Auffassung geblieben, dass Verantwortlichkeit an Willensfreiheit geknüpft ist.

Der philosophische Streit um das Problem der Willensfreiheit besteht nach Schlick in den gleichermaßen vergeblichen Versuchen, den Determinismus zu beweisen oder zu widerlegen. Alle Beweis- und Widerlegungsversuche stützen sich nur auf Scheinargumente, da die Frage der Geltung von Determinismus bzw. Indeterminismus keine philosophische, sondern eine empirisch-wissenschaftliche Frage ist. - Hartmann hat allerdings, ganz im Sinne der Kantischen Konzeption, die Frage der Geltung des Determinismus noch als philosophische Frage betrachtet, das er durch seinen Modalbeweis zu lösen versucht.

Das traditionelle Argument, dass Determinismus Freiheit und Verantwortlichkeit zunichte macht, basiert nach Schlick auf mehreren sprachlichen Konfusionen. Zunächst werden die beiden Bedeutungen des Ausdrucks „Gesetz“ verwechselt. Ein Gesetz im juristischen Sinne schreibe ein Verhalten vor, ohne dass dieses immer befolgt würde, und werde daher häufig als Zwang empfunden. Ein Gesetz im wissenschaftlichen Sinne beschreibe demgegenüber etwas, was tatsächlich der Fall sei, ohne dass dies etwas mit Zwang zu tun habe. Auch psychologische Gesetze beschreiben natürliche Reaktionsweisen des Willens, keineswegs jedoch Zwänge, denen der Wille unterworfen wäre. (vgl. Schlick 1930, S.157f) Eine weitere sprachliche Konfusion sieht Schlick darin, dass die Notwendigkeit des (strengen Gesetzen „gehorchenden“) Naturgeschehens mit Zwang verwechselt wird, wenn das Gesetzmäßige des Naturgeschehens als eine Art unentrinnbarer Zwang gedacht wird. Von einem Zwang könne jedoch nur da sinnvoll gesprochen werden, wo entgegengesetzte Wünsche vorhanden seien. Da die Allgemeingültigkeit eines Naturgesetzes jedoch der ganze Sinn von Notwendigkeit sei, habe sie nichts mit einem Zwang zu tun. Die Verwechslung der Begriffe von Notwendigkeit und Zwang führt nach Schlick dazu, dass auch ihre kontradiktorischen Gegenteile Akausalität und Freiheit verwechselt werden. Ergebnis dieser Konfusionen sei schließlich die unsinnige traditionelle Auffassung, dass Freiheit in einem Ausgenommensein vom Kausalprinzip und von Naturgesetzen bestehe. (vgl. Schlick 1930, S.158f) - Was Schlick hier beschreibt, sollen typische Fehler der Metaphysik im Freiheitsproblem sein. Hartmann verwechselt jedoch keineswegs die beiden Gesetzesbegriffe. Was die von Schlick behauptete Verwechslung von Notwendigkeit und Zwang angeht, so gibt es bei Hartmann allerdings eine Reihe von Stellen, wo den Naturgesetzen eine unüberwindliche Macht zugesprochen wird. Der entscheidende Punkt liegt nach Hartmann darin, dass alles so geschehen musste, wie es geschehen ist. Auch wenn dies nicht als ein erlebbarer Zwang verstanden werden darf, ist es im Sinne Hartmanns doch ein metaphysischer Zwang, und zwar im Sinne einer Unvermeidbarkeit unter gegebenen Bedingungen. Der entscheidende Dissenz zwischen Schlick und Hartmann besteht somit in der Frage, ob Freiheit und Verantwortlichkeit die Möglichkeit voraussetzen, dass man auch hätte anders handeln können.

Die Frage der menschlichen Freiheit wird nach Schlick traditionell zu Unrecht mit dem Problem von Determinismus und Indeterminismus zusammengebracht. Die Frage der Geltung des Kausalprinzips habe jedoch, wie Hume bereits erkannt habe, überhaupt nichts mit dem für die Ethik allein relevanten Problem der Verantwortlichkeit zu tun. Eine sorgfältige Begriffsanalyse zeige, dass für Freiheit und Verantwortlichkeit menschlichen Handelns das Vorliegen von Handlungsfreiheit völlig ausreichend sei. Das Handeln des Menschen ist nach Schlick frei, wenn die Realisierung seines Willens nicht durch äußere Zwänge behindert wird. (vgl. Schlick 1930, S.156f, 160) Außerdem betrachtet er die Annahme, dass das menschliche Handeln strengen Naturgesetzen unterworfen ist, sogar als notwendig für Verantwortlichkeit. Wären Willensentschlüsse nämlich ursachlos, so wären sie absolut zufällig, und ein nach bloßem Zufall agierendes Wesen könnte nicht verantwortlich gemacht werden. Insbesondere wäre auch die Beeinflussung des Verhaltens durch Motive wie Lob und Strafe aussichtslos. Verantwortlich gemacht werden könne eine Person nur dann, wenn ihr Handeln Angriffspunkte für Motive biete. (vgl. Schlick 1930, S.162f, 165f) Aber auch das Verantwortlichkeitsgefühl lässt sich nach Schlick so erklären. Das Bewusstsein von Freiheit und Verantwortlichkeit habe jemand genau dann, wenn er sich bewusst ist, aus eigenen Wünschen gehandelt zu haben Das Verantwortlichkeitsgefühl setze daher nur voraus, dass die eigenen Wünsche die Triebfeder des Handelns waren, keineswegs jedoch ein Bewusstsein der Ursachlosigkeit des eigenen Wollens. Auch das Gefühl, dass man hätte auch anders handeln können, bedeutet nach Schlick lediglich, dass ein anderes Handeln - bei anderen Motiven - mit den Gesetzen des eigenen Willens vereinbar gewesen wäre. Die moralische Praxis von Erziehung, Lohn und Strafe basiert somit nach Schlick auf Motivation und Gesetzlichkeit des Handelns und ist daher mit dem Determinismus vereinbar. (vgl. Schlick 1930, S.164) - Wenngleich Hartmann einerseits den Determinismus akzeptiert, hat er doch andererseits an Willensfreiheit letztlich doch festgehalten. Er ist der Ansicht, dass alle moralischen Phänomene bloßer Schein wären, wenn es keine Freiheit des Willens gäbe. Zwar gäbe es nach Hartmann dann durchaus noch das Phänomen der Motivation des Handelns durch Lob und Strafe und die Praxis des Zurechnens und Verantwortlichmachens, doch wären dies dann allesamt keine wirklich moralischen Phänomene mehr. Da Hartmann glaubt, diese moralische Dimension des menschlichen Lebens nicht preisgeben zu dürfen, stützt er Moralität nicht auf bloße Handlungsfreiheit.

9.3. Lebensphilosophie und Existenzphilosophie

9.3.1. Henri Bergson

Bergson hat in seinem Essai sur les données immédiates de la conscience (1889; dt. Zeit und Freiheit, 1920) eine Verteidigung der Willensfreiheit durch eine Theorie des Bewusstseins geliefert. Wie der Briefwechsel mit Heimsoeth zeigt, hat Hartmann die Werke Bergsons mit großem Interesse zur Kenntnis genommen.

Bergsons philosophische Grundintention besteht darin zu zeigen, dass das Wesen des menschlichen Bewusstseins eine deterministische Deutung ausschließt und stattdessen die Anerkennung der Freiheit fordert. Dazu setzt sich Bergson mit dem physikalischen und dem psychologischen Determinismus auseinander. (vgl. Bergson 1889, S.106ff) Der physikalische Determinismus könnte Freiheit nach Bergson nur dann aufheben, wenn er auf lebende Körper übertragen werden dürfte. Gegen diese Übertragung führt Bergson die völlige Verschiedenheit von physikalischen Prozessen und Bewusstseinsprozessen an. Auch wenn die Atome im Gehirn determiniert wären, so würde daraus für ihn keineswegs folgen, dass auch das psychische Leben determiniert wäre. Es müsste erst einmal bewiesen werden, dass jedem Gehirnzustand ein psychischer Zustand entspricht. Bergson hält einen solchen Nachweis jedoch für ausgeschlossen und bezweifelt, dass eine Bewegung jemals die Ursache für einen Bewusstseinszustand sein könne. Das eigentliche Motiv zur Übertragung des Determinismus auf die psychischen Vorgänge findet Bergson auch nicht in naturwissenschaftlichen Ergebnissen, sondern in der psychologischen Einsicht, dass die größere Zahl unserer Handlungen sich aus Motiven erklären lässt und Motive damit als Ursachen verstanden werden können. Damit reduziert sich für Bergson das Freiheitsproblem auf das Problem des psychologischen Determinismus. (vgl. Bergson 1889, S.109f, 111ff) - Für Hartmann ist der Determinismus ein wesentlicher Grundsatz seiner Ontologie. Er stellt das Problem der Willensfreiheit vor dem Hintergrund des physikalischen und psychologischen Determinismus gleichermaßen. Der Versuch, den psychologischen Determinismus als allein maßgebend für das Freiheitsproblem herauszustellen, ist ihm fremd. Mit Bergsons Auffassung, dass Bewusstseinsprozesse nicht auf Gehirnprozesse zurückzuführen seien, stimmt Hartmanns Schichtenlehre zwar überein, doch hat er nicht versucht, aus Überlegungen zum Leib-Seele-Problem unmittelbar Kapital für die Annahme der Willensfreiheit zu schlagen.

Der Grundmangel der gewöhnlichen Auffassung des Bewusstseins besteht nach Bergson darin, dass der Mensch gewohnt ist, sich nicht unmittelbar in seinem bewussten Erleben zu betrachten, sondern vermittelt durch Formen, die der Außenwelt entnommen sind. Wegen dieser phänomenwidrigen materialistischen Selbstdeutung des Menschen übersehe man den Unterschied zwischen der Dauer von Atomen und der Dauer von Bewusstseinsprozessen. Es ist nach Bergson eine fehlgeleitete Psychologie, die das Handeln als durch Gefühle determiniert betrachtet. Wenngleich die Mehrzahl unserer Handlungen in der Tat nicht frei sei, insofern der Mensch in ihnen weniger handelt als lediglich oberflächlich reagiert, so seien doch diejenigen Handlungen frei, in denen sich die ganze Person ausdrückt, wo also das Ich der Urheber der Tat ist. Die freie Tat trage den Stempel der ganzen Person. (vgl. Bergson 1889, S.116f, 124ff, 129f) „Frei handeln heißt von sich selbst Besitz ergreifen, sich in die reine Dauer zurückversetzen.“ (vgl. Bergson 1889, S.171) - Hartmann erkennt zwar durchaus die Eigenart der seelischen Schicht an, betrachtet sie jedoch, im Gegensatz zu Bergson, ebenfalls als strikt determiniert. Mit Bergson teilt Hartmann jedoch die Auffassung, dass die wirkliche Freiheit im innersten Kern der Person liegt und von der Person in den Kausalprozess der Realität eingebracht werden muss.

Die traditionellen Fassungen des Freiheitsproblems sind nach Bergson allesamt verfehlt. Insbesondere gelte dies für die Fragen, ob man auch hätte anders handeln können und ob das Handeln bei genauer Kenntnis der Umstände vorausberechenbar gewesen wäre. Diese Fragen sind nach Bergson sinnlos, weil sie von der vollzogenen Handlung ausgehen und damit dem wirklichen Handeln nicht gerecht werden. Nach Bergson wird in diesen Fragen die ablaufende mit der abgelaufenen Zeit verwechselt. (vgl. Bergson 1889, S.134ff, 141f) Aber auch die Frage, ob zukünftige Handlungen vorausberechnet werden können, ist nach Bergson eine unzulässiger Versuch, die wirkliche Zeit durch die (in Zahlen fassbare) Zeit der mathematischen Naturwissenschaften auszudrücken. Freiheit (als Beziehung des konkreten Ich zur Handlung) ist daher nach Bergson undefinierbar. (vgl. Bergson 1889, S.147, 163f, 170) - Die von Bergson betonte Differenz zwischen ablaufender und abgelaufener Zeit hat einen gewissen Nachhall in Hartmanns Unterscheidung von Zeitanschauung und realer Zeit gefunden, doch für die Anerkennung der Willensfreiheit hat Hartmann diese Unterscheidung nicht auszuwerten versucht. Die These der Undefinierbarkeit der Freiheit kehrt in Hartmanns These vom irrationalen Kern der personalen Determinante wieder.

Der deterministischen Auffassung, dass auch Bewusstseinsprozesse gesetzmäßig verlaufen, hält Bergson entgegen, dass sie die Details der konkreten psychischen Tatsachen ignoriere. Man setze dabei zu Unrecht voraus, dass eine exakt gleiche Ursache im Bewusstsein nochmals auftreten könne. Die radikale Heterogenität aller psychischen Tatsachen bedeute jedoch, dass keine zwei je vollkommen gleich sein können. (vgl. Bergson 1889, S.149) - Diese Idee Bergsons, dass Gesetzlichkeit die Wiederkehr gleicher Ursachen voraussetzt, ist vermutlich der Hintergrund für Hartmanns Unterscheidung zwischen Kausalität und Gesetzlichkeit und damit für seine Ansicht, dass es kausale Folgen ohne Gesetzlichkeit gibt. Und da diese Unterscheidung auch der Grund dafür sein dürfte, dass sich in seinem Begriff der personalen Determinante die unentschiedene Zweideutigkeit zwischen Determinismus und Indeterminismus findet, könnte Bergson für diese Unklarheit von Hartmanns Freiheitskonzeption mitverantwortlich sein.

9.3.2. Karl Jaspers

Im zweiten Band seines Hauptwerkes Philosophie (1932), der sich als „Existenzerhellung“ versteht, hat Jaspers sich auch mit dem Problem der Willensfreiheit auseinandergesetzt, ohne sich dabei auf Hartmann zu beziehen.

Die Grundthese von Jaspers lautet, dass die traditionelle Diskussion des Freiheitsproblems, wie sie sich in der Alternativen von Determinismus und Indeterminismus ausdrückt, die ursprüngliche Freiheit des Menschen gerade verfehlt. Freiheit als Selbstsein ist eine zentrale Thematik von Jaspers’ Existenzphilosophie, wobei er Freiheit gegen alle objektivierenden Versuche, sie zu beweisen und positiv inhaltlich zu fassen, klar abgegrenzt. (vgl. Jaspers 1932, II S.163f) – Jaspers’ Grundthese ist im Wesentlichen identisch mit dem Fazit von Hartmanns Analysen, wenn er schließlich den irrationalen Rest des Freiheitsbegriffs zugesteht. Was jedoch bei Jaspers als Triumph des Menschen über die drohende Naturalisierung erscheint, hat bei Hartmann mehr den Charakter eines resignativen Verzichts.

Jaspers unterscheidet mehrere verfehlte Versuche, Freiheit zu objektivieren. Zunächst ist der Versuch, Freiheit als Ursachlosigkeit zu deuten, nicht geeignet, sie wirklich verständlich zu machen, weil Freiheit als Zufall und Willkür nicht das ist, was wir als ursprüngliche Freiheit erleben. Aber auch der Versuch, den sinnvollen Begriff der Freiheit auf den Begriff der Freiheit des Handelns (ohne äußeren Zwang) zu reduzieren, ist nach Jaspers unzureichend, das Wesen der ursprünglichen Freiheit des Menschen zu erfassen, weil alle Lebensformen in diesem Sinne frei wären. Bloße Handlungsfreiheit banalisiert die Freiheit des Menschen. Ebenso wenig haben die soziologischen Differenzierungen von persönlicher, bürgerlicher und politischer Freiheit nach Jaspers etwas mit ursprünglicher Freiheit zu tun. (vgl. Jaspers 1932, II S.164ff) - Dass Handlungsfreiheit und politischer Freiheit nicht Willensfreiheit ausmachen, betont auch Hartmann. Seine Anerkennung der Willensfreiheit (qua personaler Determinante) ist freilich nicht offen und eindeutig als Ursachlosigkeit bestimmt. Während die Zweideutigkeit von Hartmanns Begriff der personalen Determinante das Scheitern seines Versuchs, Willensfreiheit zu beweisen und inhaltlich zu fassen, signalisiert, verzichtet Jaspers mit seiner These der Nicht-Objektivierbarkeit der ursprünglichen Freiheit von vornherein auf jede inhaltliche Freiheitstheorie und belässt es beim Umkreisen und Erhellen.

Nach Jaspers verfehlen auch die herkömmlichen Versuche, Willensfreiheit zu widerlegen, das Wesen der ursprünglichen Freiheit. So sei etwa das Argument, dass in jeder Entscheidung sich schließlich das stärkste Motiv durchsetze, eine bloße Tautologie, die weder das Wesen der Entscheidung begreiflich machen könne noch die Notwendigkeit der Willensentschlüsse zeigen könne. Aber auch alle Versuche, aus der Moralstatistik (z.B. über die jährliche Zahl von Verbrechen, Selbstmorden oder Eheschließungen) die Unmöglichkeit der Willensfreiheit ableiten zu wollen, sind nach Jaspers verfehlt, weil statistische Regeln nichts über den Einzelfall aussagen und daher auch nicht die Unfreiheit des Einzelnen beweisen können. (vgl. Jaspers 1932, II S.168f) - Im Gegensatz zu Jaspers vertritt Hartmann nicht nur einen ontologischen Determinismus, sondern glaubt darüber hinaus, auch die gewöhnlichen deterministischen Argumente gegen Willensfreiheit akzeptieren und mit seiner Lehre vereinbaren zu können.

Alle Beweis- und Widerlegungsversuche der Freiheit sind nach Jaspers zum Scheitern verurteilt, weil sie der Kantischen Grundauffassung nicht gerecht werden, dass wir als freie Wesen in der Erscheinungswelt nicht aufgehen. Die Beweisversuche wollen objektivieren, was nicht zu objektivieren ist, und heben Freiheit damit gerade auf; und die Widerlegungsversuche treffen nur ein gegenständliches Phantom. Die ursprüngliche Freiheit ist eben nicht wissenschaftlich zu erfassen, sondern unbegreiflich. Gegen alle Objektivierungsversuche der Freiheit sträubt sich das Bewusstsein in der Gewissheit, dass das Sein von Objekten nicht alles Sein erschöpft. (vgl. Jaspers 1932, II S.169f) - Jaspers liefert einen weiteren (neukantianisch gefärbten) Versuch, die Philosophie Kants für die Anerkennung der Willensfreiheit in Anspruch zu nehmen. Stärker als bei den Neukantianern kommt jedoch bei Jaspers eine metaphysische Tendenz zum Vorschein, wenn er ein absolutes Sein zwar anerkennt, es aber für unerkennbar erklärt. Freiheit ist bei Jaspers keine bloße Betrachtungsweise (wie bei Windelband und Cassirer), sondern das ursprüngliche Sein des Menschen, das sich der Objektivierung entzieht. Wie Kants Ding an sich ist Freiheit für Jaspers wirklich, aber nicht erkennbar. - Hartmanns Freiheitstheorie läuft in Endeffekt weitgehend auf dasselbe hinaus. Er beginnt seine Analyse des Freiheitsproblems zwar in gewohnt rationaler Weise, sieht sich jedoch schließlich gezwungen, den nicht-objektivierbaren irrationalen Rest im Freiheitsbegriff anzuerkennen. Die Anerkennung der realen Macht der personalen Determinante gelangt über programmatische Erklärungen nicht hinaus und entzieht sich dem Verständnis. In keiner anderen Frage ist Hartmann damit so nah an die existenzphilosophische Grundposition herangerückt wie im Freiheitsproblem.