Apriorismus


In der Metaphysik der Erkenntnis hat Hartmann eine realistische Auffassung von apriorischer Erkenntnis entwickelt und sich damit zugleich gegen die Traditionen des Rationalismus und Empirismus gestellt. Gegen empiristische und positivistische Positionen hält Hartmann mit Kant und dem Neukantianismus an a priori geltenden Prinzipien überhaupt fest; gegen Kant und die Neukantianer bricht er jedoch mit der Auffassung, dass die Anerkennung apriorischer Erkenntnis nur in einem idealistischen Rahmen möglich ist. Indem er ein realistisches Apriori postuliert, betrachtet er den Marburger Neukantianismus als seinen Hauptgegner. Positiv anknüpfen konnte Hartmann dagegen bei Meinong, Husserl und Scheler.

3.1. Der logische Idealismus

Der logische Idealismus der Marburger Schule ist eine Theorie apriorischer Erkenntnis. Die ursprüngliche Absicht, die Cohen in seiner Logik der reinen Erkenntnis (1902) verfolgt, besteht darin, das System der reinen Erkenntnisse zu entwickeln, das von den exakten Wissenschaften vorausgesetzt wird. In dem Begriff der reinen Erkenntnis versucht Cohen, die Konzeptionen Platons und Kants miteinander zu verknüpfen. Reine Erkenntnisse sind einerseits, im Sinne von Platons Auffassung von Idee als „Hypothesis“, die (methodischen) Voraussetzungen der Wissenschaften, andererseits sind sie, im Sinne von Kants „synthetischen Apriori“, die schöpferischen Erzeugnisse des Denkens, die aller empirisch-wissenschaftlichen Erkenntnis zugrunde liegen. Alles Denken und Erkennen bewegt sich immer schon in diesem selbst geschaffenen begrifflichen Rahmen. Die Möglichkeit reiner oder apriorischer Erkenntnis erklärt der logische Idealismus durch die Erneuerung des alten eleatischen Grundsatzes der Identität von Denken und Sein. (Vgl. Cohen 1902, S.15, 20, 68)

Gegen diese Konzeption von apriorischer Erkenntnis hat Hartmann zwei Haupteinwände vorgebracht. Zunächst kritisiert er die Auffassung Kants und seiner neukantianischen Nachfolger, dass apriorische Erkenntnis nur idealistisch gedeutet werden könne, als idealistisches Vorurteil. Ein realistisches Apriori ergibt sich für ihn bereits, wenn man einräumt, dass die Prinzipien der Realität mit den Prinzipien des erkennenden Subjekts übereinstimmen. Eine solche Identität der Prinzipien von Erkenntnis und Realität setzt er daher an die Stelle der eleatischen Identität von Denken und Sein. Wenn Hartmann ferner diese Identität der Prinzipien auf eine partielle Identität beschränkt, um für die irrationalen Züge der Realität Platz zu lassen, so ist dies eine zusätzliche These, die über die grundsätzlich realistische Deutung apriorischer Erkenntnis bereits hinausgeht.

Außer seiner Kritik an der idealistischen Deutung apriorischer Erkenntnis übt Hartmann auch Kritik am überzogenen Rationalismus von Cohens Konzeption der reinen Erkenntnis. Dagegen setzt er seine Auffassung vom unbewussten Funktionieren apriorischer Erkenntnisprinzipien in der Gegenstandserkenntnis. Gegen den logischen Idealismus wird damit betont, dass die apriorischen Prinzipien, die als Erkenntnismittel bei aller Gegenstandserkenntnis beteiligt sind, selber nicht erkannt sein müssen. Indem er damit die rationalistische Auffassung der völligen Erkennbarkeit apriorischer Prinzipien ablehnt, setzt er dagegen seine These der partiellen Irrationalität dieser Prinzipien.

Stärker als bei Cohen tritt bei Natorp und Cassirer das Problem des Wandels reiner Erkenntnisse hervor. (vgl. H.-L. Ollig 1979, S.112) Die Orientierung der Logik an den exakten Wissenschaften bedeutet nach Natorp, dass mit den Wissenschaften auch die Logik in den Strom der Entwicklung hineingerissen wird. Obwohl damit auch die Prinzipien gewissen Wandlungen zu unterliegen scheinen, glaubt Natorp doch an einem unwandelbaren Kern dieser Prinzipien festhalten zu können. (vgl. Natorp 1911, S.41) Um das Problem des Verhältnisses von apriorischer Erzeugung und wissenschaftlichem Fortschritt zu lösen, unterscheidet Natorp zwischen unwandelbaren, in der philosophischen Reflexion gewonnenen Grundkategorien und einem offenen System von Kategorien der Wissenschaften. Klarer und entschiedener als Natorp vollzieht Cassirer die Historisierung der Kategorien. Wie die Wissenschaften einem historischen Wandel unterliegen, so sind für ihn auch die Kategorien historisch bedingt und wandelbar. Cassirer gibt damit jedes strenge, unwandelbare Apriori als Hemmschuh der Wissenschaften preis und stellt das Erkenntnisproblem in den allgemeinen kulturhistorischen Kontext. (vgl. Cassirer 1906, S.4, 7ff) Cassirer bestreitet damit, dass die Kantische Philosophie mit dem Faktum und dem Schicksal der Newtonschen Physik unlösbar verknüpft ist. Wenngleich Kant in gewissen inhaltlichen Zügen in der Wissenschaften seiner Zeit befangen gewesen sei, sei die transzendentale Methode, die nach den Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis fragt, doch gegenüber einem Fortschritt wissenschaftlicher Grundbegriffe offen. Trotz der damit zugestandenen Wandelbarkeit des Apriori glaubt Cassirer in allem geschichtlichen Wandel der Wissenschaften Kontinuität und Fortschritt zu erkennen. (vgl. Cassirer 1906, S.14ff) - Während die Historisierung der Kategorien bei Cassirer vor allem unter dem Einfluss Hegels und des Historismus steht, ist Hartmanns Auffassung der Wandelbarkeit des Apriori nicht nur durch die historistische Tradition, sondern vor allem auch durch die Evolutionstheorie geprägt. Mit der Zeit trat die biologische Akzentuierung seiner Auffassung immer stärker hervor, bis er schließlich in seinem Aufsatz „Die Erkenntnis im Lichte der Ontologie“ (1949) eine ausgesprochen evolutionäre Konzeption von apriorischer Erkenntnis vertrat. Seine These, dass die Anschauungsformen bereits in prähistorischer Zeit fest verankert worden seien, wäre bei Cassirer undenkbar. Die Wandelbarkeit des Apriori wird damit von Hartmann zugleich als kategorialer Fortschritt gedeutet. Deutlicher als Cassirer versucht er dem drohenden historischen Relativismus der Kategorien dadurch zu entgehen, dass er den Wandel als Fortschritt begreift.

3.2. Die Gegenstandstheorie von Alexius Meinong

Gegenstandstheorie ist nach Meinong eine philosophische Disziplin, die das Sosein eines Gegenstandes a priori zu erfassen versucht. Auf den ersten Blick hat diese Frage zwar große Ähnlichkeit mit der aristotelischen Frage nach dem Seienden als Seiendem, doch ist sie bei Meinong keineswegs auf das reale Sein beschränkt. Gegenstände sind für ihn neben den realen (physischen und psychischen) Objekten auch ideale Gegenstände wie mathematische Gebilde und Begriffe. Aber selbst unmögliche Gegenstände wie runde Vierecke werden von Meinung als Gegenstände betrachtet. Aufgabe der Gegenstandstheorie ist es, die gemeinsamen Grundmerkmale aller Arten von Gegenständen herauszuarbeiten. (Vgl. Meinong Über Gegenstandstheorie (1904), S.486, 500) Wichtige Beiträge zur Gegenstandstheorie findet Meinong vor allem in der Mathematik, aber auch in der Metaphysik. (vgl. Meinong 1904, S.508ff, 515) Apriorische Erkenntnisse, wie sie die Gegenstandstheorie anstrebt, sind von dem Dasein der Gegenstände völlig unabhängig. Worin etwa das Wesen von Gleichheit und Verschiedenheit besteht, lässt sich nach Meinong ohne Bezugnahme auf reale Gegenstände („daseinsfrei“) erfassen. Indem die Gegenstandstheorie die Seinsfrage (ähnlich wie die Phänomenologie) ausklammert, ist sie eine noch fundamentalere Disziplin als die Metaphysik. Während die Metaphysik nämlich als Wissenschaft von der Gesamtheit des Realen auf Erfahrung als Erkenntnisquelle angewiesen bleibt, ist die Gegenstandstheorie als apriorische Soseinserkenntnis erfahrungsfrei und daseinsfrei. Da es somit daseinsfreies Wissen gibt, ist Sein nach Meinong keine Voraussetzung von Erkenntnis. (vgl. Meinong 1904, S.494, 520f; Meinong, Über die Stellung der Gegenstandstheorie im System der Wissenschaften, 1907, S.30ff) Meinong vollzieht damit jedoch keine völlige Trennung von apriorischer und empirischer Erkenntnis, vielmehr enthalten Wirklichkeitserkenntnisse apriorische Elemente (oder einen „apriorischen Einschlag“). Nicht bloß bei der Anwendung der Mathematik auf die Realität, sondern selbst schon bei einem alltäglichen Vergleich zwischen zwei realen Gegenständen sind nach Meinong apriorische Begriffe beteiligt. (vgl. Meinong 1907, S.33, 58)

Meinongs Gegenstandstheorie scheint auf den ersten Blick wenig mit Hartmanns Konzeption des realistischen Apriori gemeinsam zu haben. Denn während Meinong auf eine daseinsfreie apriorische Soseinserkenntnis abzielt, will Hartmann gerade eine realistische Auffassung von apriorischer Erkenntnis plausibel machen. Dennoch finden sich in Meinongs Auffassung wenigstens zwei Momente, die auf Hartmann vorausweisen. Dazu gehört zunächst Meinongs Auffassung, dass apriorische Erkenntnis es nie zur Gewissheit des Einzelfalles bringen kann, da sie zwar allgemein und notwendig, aber nicht konkret und wirklich ist. Die fehlende Einsicht in die Wirklichkeit einer Sache markiert auch nach Hartmann die „absolute Grenze apriorischer Erkenntnis“. (MdE 363f) Hartmann vertritt damit wie Meinong die Auffassung, dass es ein Erfassen von allgemeinen und notwendigen Wesenszügen des Realen gibt, ohne dass damit eine Erkenntnis von Einzelfällen verbunden wäre. (GdO 134) Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Hartmann und Meinong besteht darin, dass beide die Kantische Trennung zwischen einer rein apriorischen und einer rein empirischen Erkenntnis ablehnen und stattdessen einen „apriorischen Einschlag“ in empirischer Erkenntnis annehmen. Bei Hartmann wird diese Auffassung noch dahingehend zugespitzt, dass apriorische Begriffe und Prinzipien Erkenntnismittel sind, durch die etwas Allgemeines und Notwendiges am Gegenstand erfasst wird, die aber deswegen selbst noch nicht erfasst und begriffen sind. Seine These vom unbewussten Funktionieren des Apriori erhält ihre Plausibilität gerade durch die Annahme, dass in aller Gegenstandserkenntnis ein „apriorischer Einschlag“ ist, der selber als solcher nicht bewusst ist.

3.3. Phänomenologie

3. 3.1. Edmund Husserl
Husserls Konzeption der Phänomenologie als Wesenswissenschaft vom reinen Bewusstsein ist der Versuch, Philosophie als strenge Wissenschaft zu begründen. Die Phänomenologie basiert damit auf einer bestimmten Auffassung von apriorischer Erkenntnis. Dieses phänomenologische Apriori erreicht die Philosophie nach Husserl, wenn sie sich strikt gegen alle formalen und empirischen Wissenschaften abgrenzt und eine aller wissenschaftlichen Forschung vorausliegende Thematik erschließt, die nur der philosophischen Einstellung zugänglich ist. Diese genuin philosophische Thematik ist das nach der methodischen Weltaufhebung der „Epoché“ übrigbleibende reine Bewusstsein. Dieses Bewusstsein in seinem ursprünglichen, reinen Wesensgehalt philosophisch neutral zu beschreiben ist die Aufgabe der Phänomenologie. (Vgl. Husserl, 1911, S.23) Phänomenologische Wesensforschung ist damit nach Husserl das neue, weite Feld apriorischer Erkenntnis. Die phänomenologische Methode zur Erforschung des Apriori ist somit die Wesensschau. Dabei sind zwei Aspekte zu unterscheiden. Die Phänomenologie als Bestandsaufnahme des reinen Bewusstseins liefert zunächst keine Beschreibung psychischer Phänomene in ihrer individuellen Besonderheit und Zufälligkeit, wie dies die Psychologie zu leisten vermag, sondern Wesenserkenntnis durch eidetische Reduktion. Erfasst werden also die allgemeinen Wesenszüge, die gerade durch Ausblendung der individuellen Eigenart eines Gegenstandes gewonnen werden. Die Wesensschau liefert sodann daseinsfreie Wesenserkenntnis, da sie ganz unabhängig von der Realität des Gegenstandes gewonnen wird und sogar in der bloßen Phantasie möglich ist. (vgl. Husserl 1913, S.4, 9, 13f) Als Anschauung muss nach Husserl jedes „originär gebende Bewusstsein“ anerkannt werden ist, also keineswegs bloß die sinnliche Wahrnehmung. Zur Wesenserkenntnis gelangt allerdings nur die reine Anschauung, während die Erfahrung es nur mit Einzelfällen zu tun hat. Anschauung ist daher allgemeiner als Erfahrung, aber alle Anschauungsarten sind gleichberechtigt. (vgl. Husserl 1913, S.36ff) Der logische Idealismus verkennt dagegen nach Husserl gerade die Bedeutung der Anschauung. Denn die reine Anschauung steht dem reinen Denken keineswegs etwa gleichberechtigt zur Seite, sondern die Anschauung ist als Rechtsquelle aller apriorischen Erkenntnis, da auch Denken und Urteilen Intuition voraussetzt. (vgl. Husserl 1913, S.36, 39)

Hartmann hat die Phänomenologie Husserls als Erschließung neuer Gebiete apriorischer Erkenntnis begrüßt. Die Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Konzeption apriorischer Erkenntnis war für seine philosophische Entwicklung von erheblicher Bedeutung. Dass es apriorische Erkenntnis als intuitives Erfassen allgemeiner und notwendiger Wesenszüge im Sinne der Husserlschen Wesensschau gibt, ist ein zentrales Stück seiner Erkenntnistheorie geworden. In mehreren Punkten hat Hartmann sich aber von Husserl distanziert. Ein erster wichtiger Unterschied besteht darin, dass er reine Anschauung und reines Denken als gleichberechtigte Quellen apriorischer Erkenntnis anerkennt und damit den Intuitivismus der Phänomenologie und den Intellektualismus der Neukantianer als Einseitigkeiten überwinden möchte. (MdE 169, 173) Allerdings sind Hartmanns Aussagen in dieser Hinsicht uneinheitlich. Einerseits kritisiert er die einseitige Orientierung der Phänomenologie an der Anschauung, andererseits fasst er gelegentlich die Anschauung als gemeinsames Element von Denken und Wahrnehmung. (vgl. MdE 51, 346)

Ein weiterer wichtiger Unterschied besteht in Hartmanns Auffassung von nicht-apriorischer Erkenntnis des Apriori. Obwohl Hartmann das Vorhandensein apriorischer Formen der Erkenntnis von realen (und idealen) Objekten anerkennt, ist das reflexive Erfassen dieser Formen selber zwar Aufgabe der philosophischen Erkenntnistheorie, aber ein solches Erfassen des Apriori ist durchaus hypothetisch und fallibel. Mit dieser Konzeption eines hypothetischen Apriori wendet sich Hartmann gegen die von der Husserl beanspruchte absolute Gewissheit der phänomenologischen Wesenserkenntnis und damit gegen den Anspruch der Phänomenologie, eine voraussetzungslose, exakte Wissenschaft zu sein. Obwohl Hartmann einerseits die philosophische Neutralität der phänomenologischen Methode durchaus anerkennt, verwirft er doch entschieden ihren Anspruch auf absolute Evidenz. Eine dritte zentrale Differenz zu Husserl besteht darin, dass es Hartmann weniger darum geht, eine (auf reine Anschauung und reines Denken sich stützende) Theorie apriorischer Erkenntnis auszuarbeiten, als vielmehr die Möglichkeit apriorischer Erkenntnis im Rahmen eines erkenntnistheoretischen Realismus verständlich zu machen.

3.3.2. Max Scheler

In seinem Werk Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913/16) hat Scheler, in Fortführung von Husserls Wesensschau, seine Konzeption eines „materialen Apriori“ entwickelt. Mit Husserl versucht er das Apriori von formalistischen und rationalistischen Restriktionen zu befreien. Sein entscheidender Schritt über Husserl hinaus besteht darin, dass er das Apriori der intuitiven Wesenserkenntnis auch auf das Emotionale des Geistes (Liebe, Haß, Wollen etc.) ausweitet und Husserls reiner Logik damit eine reine Wertlehre an die Seite stellen möchte. Die Ethik wird damit zur Formulierung dessen, was in der Wertschau gegeben ist. (vgl. Scheler 1913/16, S.84f, 90) – Die überragende Bedeutung von Schelers Ethik für Hartmann ist offensichtlich. Aber auch Schelers Konzeption eines materialen Apriori hat Hartmanns Entwicklung eines realistischen Apriori sicher beeinflusst. Dieser Einfluss war vermutlich wichtiger war als der Einfluss Husserls. Bereits in seiner Rezension des phänomenologischen Jahrbuchs (1913/14), worin Scheler, aber nicht Husserl besprochen wird, weist Hartmann auf die Konsequenzen der phänomenologischen Ansätze für die Konzeption des Apriori eigens hin, und in seinem unmittelbar anschließend entstandenen Aufsatz „Über die Erkennbarkeit des Apriorischen“ (1914) finden seine dadurch inspirierten Überlegungen einen ersten Niederschlag. Insbesondere Schelers Konzeption eines emotionalen Apriori hat Hartmann sich weitgehend angeschlossen und in seiner Ethik (1926) in einer Art und Weise ausgearbeitet, die Schelers ausdrückliches Lob (in einem späteren Vorwort) gefunden hat. (vgl. Scheler 1913/16, S.19)

In der Konzeption der Wesensschau schließt Scheler sich weitgehend Husserl an. Die Wesensschau ist auch für ihn eine unmittelbare Anschauung, die das Wesen eines Gegenstands erfasst, ohne dass der Gegenstand existieren müsste. Scheler betont dabei besonders die Unmittelbarkeit und Immanenz der Wesensschau. Im Gegensatz zur natürlichen Einstellung ist die Wesensschau strikt an das anschaulich Gegebene gebunden, verzichtet auf jede Transzendierung und kennt keine Trennung von Gegebenem und Gemeintem. Das apriori gegebene Wesen ist damit nach Scheler ein rein intuitiver Gehalt, d.h. weder eine Konstruktion noch eine durch Rekonstruktion zu erschließende logische Voraussetzung der Wissenschaften wie für den Neukantianismus. (vgl. Scheler 1913/16, S.71ff) Das Apriori ist auch kein Funktionsgesetz der Vernunft, wie Kant meinte, sondern eine objektive Struktur der Erfahrungsgegenstände. (vgl. Scheler 1913/16, S.87) Kants Theorie der erzeugenden Verstandestätigkeiten (die Scheler als Mythologie kritisiert) habe mit dem Phänomen des Apriori nichts zu tun, sondern sei eine konstruktive Erklärung des Apriori, die auf der (mit dem Sensualismus geteilten) verfehlten Voraussetzung basiere, dass nur ein Chaos von Empfindungen unmittelbar gegeben sei. (vgl. Scheler 1913/16, S.86) Der intuitive Charakter trennt die Wesensschau von der neukantianischen Auffassung, dass apriorische Erkenntnis im reinen Denken stattfindet. Dagegen betont Scheler, dass apriorische Erkenntnis sich durch Anschauung vollzieht und nichts mit gedanklichen Konstrukten zu tun hat. Das in unmittelbarer Anschauung erfasste Wesen kann danach in apriorischen Sätzen formuliert werden. Scheler betont damit, dass das a priori erfasste Wesen selber nicht bloß der sprachlichen oder logischen Sphäre angehört, sondern ein eigenes Sein hat. (vgl. Scheler 1913/16, S.68ff) Um die Apriorität der Wesensschau besonders zu betonen, behauptet Scheler mit Husserl, dass die darin gewonnenen Wesenseinsichten weder durch die alltägliche (natürliche) noch durch die wissenschaftliche Erfahrung jemals korrigiert werden könnten. Die Wesensschau ist vielmehr unabhängig von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden. (vgl. Scheler 1913/16, S.70)

Wie schon bei Husserl hat Hartmann auch Schelers Kritik der intellektualistischen Vereinnahmungen des Apriori durch den Neukantianismus ebenso zugestimmt wie seiner Herausstellung des intuitiven Charakters der Wesensschau. In einigen zentralen Punkten hat Hartmann sich jedoch auch klar von Scheler distanziert. Die phänomenologische Auffassung, dass apriorische Erkenntnis ausschließlich Sache der Anschauung ist, hat Hartmann auch bei Scheler als neue Einseitigkeit abgelehnt und stattdessen Denken und Anschauung als gleichberechtigte apriorische Erkenntnisinstanzen anerkannt. Wenngleich Hartmann mit den Phänomenologen an apriorischer Erkenntnis festgehalten hat, hat er den von Scheler erneuerten Anspruch auf eine vorwissenschaftliche und damit empirisch unkorrigierbare, absolut gewisse Erkenntnis fallen gelassen. Ausdrücklich betont er, dass keine Erkenntnisinstanz unfehlbar ist. Mit seiner These, dass das Apriori selber nicht a priori erkannt sein muss, wendet sich Hartmann auch gegen diese Absolutheitsansprüche der Wesensschau. Einen Mangel an Schelers Auffassung sieht Hartmann nicht zuletzt darin, dass auch Scheler nicht zu einer realistischen Konzeption des Apriori vorgedrungen ist. In allen diesen Punkten kritisiert Hartmann Husserl und Scheler gleichermaßen.

Außer der Grundkonzeption der Wesensschau, worin Husserl und Scheler weitgehend übereinstimmen, finden sich bei Scheler noch einige Details, die im Hinblick auf Hartmann von Interesse sind. Scheler vertritt zunächst etwa die These, dass die (bei der Erfassung des Wesens in der phänomenologischen Wesensschau tätige) Intuition auch die gewöhnlichen Erfahrungen steuere. „Formgesetze des Erfassens“ sollen die Erfahrung a priori bestimmen. (vgl. Scheler 1913/16, S.73) - In dieser (explikationsbedürftigen) These kann man eine Vorwegnahme von Hartmanns These vom unbewussten Funktionieren des Apriori in der Erfahrungserkenntnis sehen.

Auch Kants Auffassung, dass apriorische Erkenntnis durch Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit charakterisiert ist, lehnt Scheler ab. Gegen die Charakterisierung des Apriori durch Notwendigkeit wendet er ein, dass es Notwendigkeit nur zwischen Sätzen gibt. Auch Allgemeingültigkeit hat nach Scheler nichts mit Apriorität zu tun, da es auch individuelle Wesenheiten gibt. (vgl. Scheler 1913/16, S.94ff) - Hartmann hält dagegen an der kantischen Charakterisierung des Apriori durch Notwendigkeit und Allgemeinheit (bzw. Allgemeingültigkeit) fest, wobei er diese Begriffe sowohl ontologisch als Wesenseigenschaften der Dinge als auch begrifflich als Merkmale apriorischer Erkenntnis verwendet. Eine (auch nur implizite) Replik auf Schelers Kritik findet sich bei ihm aber nicht.

Scheler lehnt schließlich die Gleichsetzung von Apriori und Angeborensein ausdrücklich ab und verwirft alle phylogenetischen Erklärungsversuche des Apriori. Diese Auffassung hat Scheler freilich kaum konsequent durchgehalten. Wenn er an anderer Stelle zugesteht, dass die Fähigkeit zu apriorischer Erkenntnis angeboren sein könnte. (vgl. Scheler 1913/16, S.98f) - Bei Hartmann findet sich eine genetisch-evolutionäre Erklärung apriorischer Erkenntnis in der Metaphysik der Erkenntnis vorsichtig angedeutet, in seinen letzten Schriften jedoch klar und offen vertreten.