4.2. Die Schichtenlehre


Wenngleich Hartmann als der Hauptvertreter der Schichtenlehre gilt, hat die Schichtungsidee doch, wie er sehr wohl wusste, eine lange Vorgeschichte. Hartmann selber hat in seinem AufsatzDie Anfänge des Schichtungsgedankens in der Alten Philosophie“ (1943) die Ursprünge der Schichtungsidee in den Seelenlehren Platons und Aristoteles’ eingehend untersucht. Zugleich war er sich darüber im Klaren, dass die Schichtungsidee nicht nur im deutschen Idealismus, sondern auch in der französischen Philosophie der Neuzeit eine wichtige Rolle gespielt hat. Die Bemühungen seines Freundes Heinz Heimsoeth, die Schichtungsidee bei Descartes, Comte und Boutroux herauszuarbeiten (vgl. Heimsoeth 1939/40), hat Hartmann ausdrücklich begrüßt. (II 165) Im Folgenden soll die Stellung von Hartmanns Schichtenlehre im Kontext der zeitgenössischen Philosophie beleuchtet werden. Dazu soll nacheinander auf Boutroux, Scheler, Rickert, Jaspers und Gehlen eingegangen werden.

4.2.1. Emile Boutroux

Emile Boutroux hat in seiner Schrift De la contingence des lois de la nature (1874 ; dt. Die Kontingenz der Naturgesetze, 1911) eine Auffassung von geschichteter Realität entwickelt, die einige zentrale Punkte von Hartmanns Schichtenlehre vorwegnimmt. Nach Boutroux besteht das Universum aus mehreren übereinander geschichteten Seinsbereichen. Die Hierarchie dieser Bereiche weist einige bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit Hartmanns Konzeption auf. Dazu gehört vor allem die Tatsache, dass Boutroux die Schichten des begrifflichen und mathematischen Seins den Schichten der real-materiellen Welt vorausgehen lässt. Wie Hartmann wendet er sich gegen die platonistische Tradition, wenn er das ideale Sein ausdrücklich als ein - verglichen mit dem realen Sein - niederes Sein deutet. Das ideale Sein soll gewissermaßen noch eine Stufe unter dem anorganischen Sein bilden, womit er vermutlich Comtes Hierarchie der Wissenschaften folgt, in der die Mathematik die fundamentalste Stelle einnimmt. Innerhalb der Schichten des realen Seins unterscheidet Boutroux sodann Materie, Leben und die Welt des Gedankens, ohne dabei einen Unterschied zwischen Seele und Geist zu machen. (vgl. Boutroux 1911, S.128)

Die besondere Bedeutung von Boutroux als Vorläufer von Hartmanns Schichtenlehre liegt darin, dass er einige Schichtungsgesetze im Sinne Hartmanns ansatzweise formuliert hat. Die verschiedenen Seinsbereiche sind nach Boutroux so miteinander verbunden, dass die höheren ihrem Dasein nach zwar von den tieferen abhängen, aber zugleich Eigenschaften besitzen, die sich durch eine Analyse der tieferen Bereiche nicht ableiten lassen. Mit der These, dass jeder höhere Bereich gegenüber dem jeweils tieferen kontingent ist, antizipiert Boutroux Hartmanns Gesetz des Novums. Zugleich nimmt er das Gesetz der Materie vorweg, wenn er sagt, dass die höheren Bereiche in den tieferen nur ihre Materie, nicht aber ihre Formen finden. (vgl. Boutroux 1911, S.128) Schließlich formuliert Boutroux im Ansatz auch das Gesetz der Freiheit, wenn er die Unabhängigkeit der höheren Bereiche darin sieht, dass jeder höhere Bereich bis zu einem gewissen Grad in die Entwicklung der tieferen eingreifen und deren Gesetze zu seinem Vorteil ausnutzen kann. (vgl. Boutroux 1911, S.130) Bemerkenswert ist schließlich Boutroux’ Stellungnahme zur Frage, ob die höheren Welten kontinuierlich aus den tieferen hervorgehen können. Wie Hartmann äußert er sich sehr zurückhaltend und schiebt diese Frage, verglichen mit der entscheidenden These der Nichtreduzierbarkeit, als irrelevant beiseite. (vgl. Boutroux 1911, S.133) Die grundlegende Differenz zu Hartmann besteht darin, dass Boutroux Kontingenz nicht nur zwischen den Schichten annimmt, sondern dass er auch das Geschehen innerhalb jeder Schicht als kontingent, also als partiell indeterminiert, begreift. Der Grund für diesen Indeterminismus ist offenbar sein Interesse an Freiheit und Verantwortlichkeit menschlichen Handelns. Boutroux ist überzeugt, dass Freiheit eine Illusion wäre, wenn die Welt nach strikt deterministischen Gesetzen bestimmt wäre. Nur die Kontingenz der Naturgesetze macht es für ihn verständlich, dass der Mensch durch freies Handeln in den Lauf der Welt eingreifen kann. Die Freiheit des Menschen denkt Boutroux dabei als Abbild göttlicher Freiheit. (vgl. Boutroux 1911, S.141, 145f, 161)

Wenngleich Hartmann an die von Boutroux im Ansatz formulierten Schichtungsgesetze anknüpfen konnte, hat er sich doch entschieden gegen dessen Auffassung gewendet, dass Freiheit menschlichen Handelns nur im Rahmen eines Indeterminismus möglich sei. Für Hartmann besteht gerade kein Grund, einen Indeterminismus zu postulieren, um die kategoriale Freiheit des Höheren als Willensfreiheit begreifen zu können. Hartmann kritisiert daher, dass Boutroux die Gesetze der niederen Schichten beschränken möchte, um den Einfluss der höheren Schichten zu ermöglichen. (III 257)

4.2.2. Max Scheler

Während Hartmann in seiner primär ontologischen Orientierung den „Aufbau der realen Welt“ zu klären versucht, geht es Scheler in seiner primär anthropologischen Orientierung um die „Sonderstellung des Menschen in der Welt“. Wenngleich Schelers primäres Interesse der Anthropologie gilt, hat er doch versucht, sein Bild des Menschen in eine allgemeine Schichtungsontologie zu integrieren. Über der Schicht des Anorganischen, die er voraussetzt, ohne sich mit ihr besonders zu befassen, erhebt sich die biopsychische Schicht. Im Gegensatz zu Hartmann betrachtet Scheler das Organische und das Seelische insofern als eine Schicht, als alles Lebendige eine Innenschicht (bzw. ein „Fürsich- und Innesein“) besitzt. (vgl. Scheler 1928, S.11ff) Über der biopsychischen Schicht erhebt sich nach Scheler der Geist. Scheler greift sowohl zur Charakterisierung der Seinsschichten überhaupt als auch zur näheren Bestimmung der biopsychischen Schicht auf die Schichtungsidee zurück.

Innerhalb der Schicht des Biopsychischen gibt es nach Scheler eine Stufenfolge von Kräften: Die unterste Stufe ist der bewusst- und empfindungslose „Gefühlsdrang“, der im Reich der Pflanzen allein herrscht und die treibende Kraft in allem Geschehen ist. Die zweite Schicht bilden die Instinkte, die das Verhalten der Tiere, in Restformen aber auch das Verhalten des Menschen, nach angeborenen und vererbten festen Mustern steuern. Die dritte Stufe ist das assoziative Gedächtnis und das auf ihm basierende gewohnheitsmäßige Verhalten, wodurch es den Lebewesen gelingt, sich aus der Artgebundenheit und Starrheit des Instinkts zu lösen und sich neuen, nicht arttypischen Situationen anzupassen. Die vierte Stufe ist schließlich die praktische Intelligenz. Ein Verhalten ist nach Scheler intelligent, wenn es sich ohne Versuche, also allein durch mentales Probehandeln, an neue Situationen sinnvoll anpassen kann. (vgl. Scheler 1928, S.12ff, 17ff, 24ff, 32ff) Darüber hinaus nimmt Scheler nicht nur eine Zurückbildung von Instinkten an, sondern betrachtet assoziatives Gedächtnis und praktische Intelligenz geradezu als Zerfallsprodukte der Instinkte. – Eine vergleichbare, sich eng an Biologie und Psychologie anlehnende Binnendifferenzierung innerhalb des Psychischen gibt es bei Hartmann nicht. Die Schicht des Seelischen ist bei ihm allerdings weitgehend unterbestimmt. Auch in seinen späteren Schriften hat er sich jedoch in diesem Punkt nicht näher an Scheler angelehnt.

Auch seine Konzeption des Geistes als höchster Schicht der Realität hat Scheler in sein Schichtungskonzept einzubauen versucht. Um die Sonderstellung des Menschen zu gewährleisten, sieht Scheler sich jedoch genötigt, einen transzendenten Ursprung des Geistes zu postulieren. Mit der Anerkennung der Intelligenz bei Tieren wird es ihm nämlich unmöglich, in diesem Merkmal den Wesensunterschied von Tier und Mensch zu sehen. Nicht die praktische Intelligenz, sondern der Geist zeichnet die Sonderstellung des Menschen aus. Der Geist wird dabei von Scheler als ein dem Leben entgegengesetztes Prinzip gedacht, das es dem Menschen ermöglichen soll, sich von der Gebundenheit an die vitalen Bedürfnisse und Interessen zu befreien und sich in rein sachlicher Einstellung der Welt zu öffnen. Diese Haltung nennt Scheler Weltoffenheit. (vgl. Scheler 1928, S.37ff) Der Geist wird damit von Scheler als ein ursprüngliches Prinzip gefasst, dessen Realisierung oder besser Manifestierung in der Welt zwar dem Menschen anheimfällt, das aber an sich im Weltgrund vor aller Manifestierung bereits vorhanden ist. Der Geist ist daher nach Scheler nicht von dieser Welt. (vgl. Scheler 1928, S.57, 70)

Trotz der ontologischen Sonderstellung des Geistes hat Scheler Hartmanns Schichtungsgesetze anerkannt. Er unterstreicht vor allem das Gesetz der Stärke, wobei er sogar beansprucht, den gleichen Gedanken bereits in seiner Ethik vorweggenommen zu haben. (vgl. Scheler 1928, S.65) Die Anerkennung der Eigengesetzlichkeit des Höheren hat bei Scheler freilich einen etwas anderen Sinn, wenn er sagt, dass die höheren Seinsformen an Sinn und Wert den tieferen überlegen seien. (vgl. Scheler 1928, S.65) Ähnlich wie Hartmann wendet Scheler sich auch gegen die falschen Extreme von Materialismus und Naturalismus einerseits und von Vitalismus und Idealismus andererseits. Das Höhere ist nach Scheler weder die Ursache des Niederen, noch ist das Höhere aus dem Niederen genetisch entsprungen. (vgl. Scheler 1928, S.65) Scheler hält damit die Schichtendifferenzen aber auch in einem genetisch-evolutionären Sinne für unüberwindlich, während Hartmann nur ihre kategoriale Eigenart behauptet und in seinen späten Schriften eine genetische Deutung der Schichten ausdrücklich anerkennt.

Schelers Anerkennung der Schichtungsgesetze steht jedoch mit seiner Konzeption des Geistes im Widerspruch. Der Geist soll ein mit dem Drang gleichursprüngliches Seinsprinzip sein. (vgl. Scheler 1928, S.70) Scheler lässt zwar die Manifestation des Geistes in der Welt von den (dienstbar gemachten) niederen Schichten abhängig sein, indem er sie als Sublimierung von Trieben versteht, doch er betont zugleich, dass der Geist damit keineswegs erst geschaffen wird. Er soll vielmehr vor und unabhängig von aller Manifestation im Weltgrund - als Anlage oder potentia - bereits existieren. Wie auch immer dieses An-sich-Sein des Geistes gedacht werden mag, auf jeden Fall wird damit das Gesetz der Stärke verletzt. Der Geist als Kind aus einer andern Welt ermöglicht es zwar, die metaphysische Sonderstellung des Menschen in einem exklusiven Sinne zu bewahren, doch ist dies nach Hartmann eine völlig unbegründete spekulative Annahme. Hartmann hat sich in diesem Punkt strikt gegen Scheler gewendet und die Unverbrüchlichkeit der kategorialen Gesetze verteidigt, ohne jedoch auf eine (freilich bescheidenere) Sonderstellung des Menschen zu verzichten.

4.2.3. Heinrich Rickert

Der späte Rickert hat seine Philosophiekonzeption in seinen Schriften Die Logik des Prädikats und das Problem der Ontologie (1930) und Grundprobleme der Philosophie (1934) den zeitgenössischen Bemühungen um eine Erneuerung der Ontologie in gewisser Weise angepasst. Die von ihm nun unterschiedenen Seinsformen bilden zwar auch ein Stufenreich, doch sind Anklänge an Hartmanns Schichtenlehre dabei kaum festzustellen.

Innerhalb der Sinnenwelt unterscheidet Rickert zwischen physischen und psychischen Sein. Die erste Form des physischen Seins ist die anorganische Materie, die durch den Mechanismus quantitativ erfassbarer Bewegungen von Teilchen im Raum bestimmt ist. Da die Quantifizierbarkeit dieser Seinsform nach Rickert nur eine Abstraktion ist, nämlich eine begrifflich herausgelöste Seite der sinnlich realen Körperwelt, rechnet er auch die qualitativen Seiten zum sinnlichen Ding und damit zum ontologischen Körperbegriff. (vgl. Rickert 1934, S.57f) Hier zeigt sich deutlich, dass Rickert durch sein Festhalten an der idealistischen Grundposition der Neukantianer - im Gegensatz zu Hartmann - Ontologie sozusagen rein phänomenologisch betreibt. Vom Mechanismus wesentlich verschieden ist nach Rickert das organische Sein, insofern es sich nicht als eine bloß quantitativ bestimmte Summe begreifen lässt. Der Organismus ist für ihn eine ganz anders geartete qualitative Ganzheit, in der jedes Glied seine Eigenart nur im Zusammenhang besitzt. Innerhalb des physischen Seins gibt es daher nach Rickert bereits einen Dualismus. (vgl. Rickert 1934, S.61ff) Doch auch eine vitalistische Form von Materialismus, die diesem Unterschied Rechnung trägt, hält er für unzureichend, da das seelische Sein durch fehlende Raumerfüllung grundlegend vom körperlichen Sein unterschieden ist. Körperliches und seelisches Sein verändern sich in der Zeit, doch ist nur das körperliche Sein räumlich bestimmt. (vgl. Rickert 1934, S.63ff) Ähnlich wie Hartmann folgt Rickert hier der cartesischen Tradition und postuliert einen psychophysischen Dualismus innerhalb der Sinnenwelt.

Neben oder oberhalb der drei Sphären der Sinnenwelt gibt es nach Rickert das ideale Sein der Bedeutungen und zeitlosen Wahrheiten. Diese Seinsform kann zwar nicht sinnlich wahrgenommen werden, aber sie gehört nach Rickert in einem weiteren Sinne dennoch zur Erfahrung. Damit ist bei Rickert zugleich eine Kritik der verstehenden Psychologie verbunden: Nicht Psychisches, sondern Bedeutungen werden verstanden. (vgl. Rickert 1934, S.103f) Im Gegensatz zum seelischen Sein, das nur jedem selbst zugänglich ist, kann das ideale Sein von allen erfasst werden. Im Anschluss an Husserl unterscheidet Rickert damit den verstehenden oder meinenden Akt vom erfassten Sinngebilde. (vgl. Rickert 1934, S.77ff) Alle Formen des realen und idealen Seins fallen nach Rickert in den Bereich der Immanenz. Den Gegensatz sinnlich-intelligibel grenzt er daher von dem Gegensatz diesseits-jenseits streng ab. (vgl. Rickert 1934, S.80f) - Wenngleich Rickert die verschiedenen Seinsformen zwar durch die Idee der Nicht-Reduzierbarkeit voneinander unterscheidet, macht er dabei doch keinen Gebrauch von Hartmanns Schichtungsgesetzen. Dennoch sind gewisse Konvergenzen ihrer Auffassungen vom realen und idealen Sein unverkennbar. Eine eigenständige Form geistigen Seins zwischen seelischem und idealem Sein kennt Rickert freilich nicht.

Die vier Formen des immanenten Seins werden nach Rickert von zwei transzendenten Seinsformen umrahmt: Dem immanenten Sein liegt einerseits das (von Rickert als „prophysisch“ bezeichnete) Sein des erkennenden Subjekts voraus, wobei diese wertende, Stellung nehmende Instanz im Menschen sich durch ihren Aktcharakter vom idealen Sein unterscheidet und wegen ihrer Nichtobjektivierbarkeit auch nicht zum psychophysischen Sein gerechnet werden kann. (vgl. Rickert 1934, S.110ff, 115ff) Andererseits liegt hinter dem immanenten Sein das übersinnliche Sein, das den Gegenstand der Metaphysik bildet. Rickerts Auffassung des übersinnlichen Seins, das nur durch Negation aller Prädikate der immanenten Welt bestimmbar sein soll und von dem nur metaphorisch gesprochen werden kann, schwankt zwischen dem ontologischen Begriff einer an-sich-seienden Welt (als Korrelat der Sinnenwelt) und dem transzendent-theologischen Begriff einer jenseitigen Welt, die den Sinn des menschlichen Lebens garantieren soll. (vgl. Rickert 1934, S.136ff, 140ff, 143) - In der Konzeption des transzendenten Seins unterscheidet sich Rickert fundamental von Hartmann. Bei Hartmann gibt es weder ein transzendentales oder prophysisches Subjekt noch Transzendenz in einem religiösen Sinne. Transzendenz ist für ihn ein rein erkenntnistheoretischer Begriff ohne theologische Konnotation, der nur die Bewusstseins- und Erkenntnisunabängigkeit der realen Welt meint.

4.2.4. Karl Jaspers

Im ersten Band seines dreibändigen Hauptwerks Philosophie (1931) hat Jaspers bei seinem Versuch, durch eine „philosophische Weltorientierung“ die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis zu bestimmen, auch auf die Schichtungsidee zurückgegriffen. Jaspers will zeigen, dass die Realwissenschaften zu einer vierfachen Gliederung der Wirklichkeit gelangen, die sie nicht mehr zur Einheit eines Weltbildes überschreiten können.

Wie Hartmann unterscheidet Jaspers Materie, Leben, Seele und Geist als die vier Schichten der Welt, die an die Stelle der traditionellen Zweiteilung von Natur und Geist getreten seien. Und wie Hartmann lässt er die Raumdimension ab dem seelischen Sein abbrechen. (vgl. Jaspers 1931, S.105, 167ff) Jede Schicht hat ihre eigene Objektivität. Die Materie erweist sich als Messbarkeit, das Leben als objektive Teleologie, die Seele als Erleben und Ausdruck und der Geist als Meinen und gedanklicher Inhalt. Die Differenz zwischen Seele und Geist formuliert Jaspers damit noch klarer als Hartmann. Wie Hartmann betont Jaspers schließlich, dass der Geist sich im Individuum nur entfaltet, sofern es in Gesellschaft und Geschichte mit anderen zusammenlebt. (vgl. Jaspers 1931, S.170)

Nicht nur die Differenzierung der vier Schichten und ihre inhaltliche Bestimmung, sondern auch der Zusammenhang zwischen den Schichten wird von Jaspers weitgehend im Sinne von Hartmanns Schichtungsgesetzen gedacht. Zunächst akzeptiert Jaspers faktisch Hartmanns Gesetz der Stärke, wenn er sagt, dass die frühere Schicht auch ohne die spätere bestehen könne, aber nicht umgekehrt. (vgl. Jaspers 1931, S.106) „Jede dieser Wirklichkeiten hat die frühere zur Daseinsvoraussetzung ... Kein Geist ist wirklich ohne Seele, keine Seele ohne Leben, kein Leben ohne Materie.“ (Jaspers 1931, S.106) Sodann akzeptiert Jaspers das Gesetz des Novums. Jede höhere Schicht habe ihre eigene Gesetzlichkeit und könne daher nicht auf die tiefere Schicht reduziert werden. Es sei auch unzulässig, irgendeine Schicht als die allein Wirkliche herauszugreifen und die übrigen in Analogie zu ihr zu begreifen. (vgl. Jaspers 1931, S.105f, 174) Ganz im Sinne Hartmanns kritisiert Jaspers damit Grenzüberschreitungen. Zwischen den einzelnen Schichten bestehen Sprünge, die kein Verständnis überbrücken könne. Mit jeder höheren Schicht trete etwas radikal Neues auf, das aus der tieferen nicht zu begreifen sei. Nicht die Sprünge, sondern nur die Beziehungen zwischen den einzelnen Schichten können nach Jaspers erforscht werden. (vgl. Jaspers 1931, S.172) Die Welt ist nach Jaspers zwar kein Konglomerat verschiedener Sphären, doch entzieht sich das gemeinsame Fundierende der Schichten der Erkenntnis. „Es gibt daher keine erkenntnismäßig fruchtbare umfassende Theorie der Welt überhaupt.“ (vgl. Jaspers 1931, S.107) In dem Verzicht, die (möglicherweise) verborgene Einheit hinter den Schichten zu suchen, geht Jaspers mit Hartmann ganz konform. Was für Hartmann jedoch als schlichte Phänomenaufweisung ontologische Relevanz besitzt, dient Jaspers in erster Linie als Nachweis der Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis.

Die Ähnlichkeiten von Jaspers Auffassung mit der Hartmannschen sind in alledem so frappierend, dass zu vermuten ist, dass Jaspers Hartmanns Abhandlung „Kategoriale Gesetze“ (1926) nicht nur gekannt, sondern seiner philosophischen Weltorientierung sogar zugrunde gelegt hat. Es gibt jedoch keine klaren Hinweise für die Richtigkeit dieser Vermutung.

4.2.5. Arnold Gehlen

Gehlen hat in seinem anthropologischen Hauptwerk Der Mensch (1940) die Schichtungsidee in dem Moment attackiert, als Hartmann sie in seinem Hauptwerk Der Aufbau der realen Welt (1940) erst voll entfaltete. Es ist aber gar nicht die Schichtungskonzeption Hartmanns, sondern die Schelers, die Gehlen kritisiert. Dennoch hat sich Hartmann durch Gehlens Kritik so herausgefordert gefühlt, dass er Gehlens Schrift 1941 eine eingehende Rezension widmete. Gehlen hat seinerseits in einem noch unveröffentlichten Aufsatz Hartmann geantwortet. (Das Manuskript dieses Aufsatz, das anscheinend wegen seines kritischen Charakters keine Aufnahme in die Gedenkschrift von 1952 fand, verschenkte Gehlen an Wolfgang Harich, der es seinerseits an den Herausgeber der Werke Gehlens, Prof. Dr. Rehberg, weiterreichte, wo es im Rahmen von Gehlens Nachlass auf seine Veröffentlichung wartet. - Persönliche Mitteilung von W. Harich)

Gehlen attackiert in seinem Hauptwerk Schelers Stufenmodell biopsychischer Kräfte (Instinkt, Gewohnheit, praktische Intelligenz, Geist), weil er es für ungeeignet hält, das Verhältnis von Tier und Mensch adäquat zu fassen. Seine Kritik hat eine primär anthropologische Stoßrichtung. Die Problematik dieses Schemas besteht nach Gehlen darin, dass die unvermeidliche Anerkennung von praktischer Intelligenz bei höheren Affen den Wesensunterschied des Menschen aufzuheben drohe. Das Stufenmodell führt nach Gehlen zu folgendem Dilemma: Entweder gebe man einen bloß graduellen Unterschied zwischen Tier und Mensch zu und verzichte damit auf die Sonderstellung des Menschen, oder man verlege das spezifisch menschliche Merkmal in ein sich von allen bisherigen Leistungen strikt unterscheidendes und damit im Grunde übernatürliches Prinzip wie Schelers „Geist“. (vgl. Gehlen 1940, S.21f) In Schelers Stufenschema steckt nach Gehlen u.a. die falsche Vorstellung, als gebe es eine einfache Entwicklungsordnung von Leistungen vom Instinkt bis zum Geist. Neuere Forschungen der Biologie haben nach Gehlen jedoch gezeigt, dass der Instinkt weder die ontogenetische noch die phylogenetische Vorstufe höherer geistiger Leistungen ist. Vielmehr bilden Instinktbewegungen und die als Vorstufe intelligenten Verhaltens geltenden so genannten Orientierungsbewegungen zwei verschiedene, angeborene, arterhaltende Bewegungsarten nebeneinander. (vgl. Gehlen 1940, S.24ff) Der grundlegende Fehler des alten, auf Aristoteles zurückgehenden Stufenschemas besteht nach Gehlen in der Annahme, dass der Mensch die in der Natur aufeinander aufbauenden Schichten in sich vereinige und nur zusätzlich noch durch die neue Stufe des Geistes ausgezeichnet sei. Der Unterschied zwischen Tier und Mensch liege jedoch nicht allein im Geist, sondern zeige sich bereits in Stil und Art seiner Bewegungen, seiner Lautäußerungen und seines intelligenten Verhaltens, und das heißt nach Gehlen in allem, was den Menschen als handelndes Wesen auszeichnet. Alles spezifisch Menschliche lasse sich daher durch eine Analyse der Handlung erfassen. (vgl. Gehlen 1940, S.23) Diese Kritik Gehlens bezieht sich auf Schelers anthropologisches Stufenmodell und richtet sich daher primär gegen die Auffassung von Stufen psychischer Kräfte. Gehlens Kritik ist damit gegen alle Versuch gerichtet, die Schichtungsidee innerhalb des Psychischen geltend zu machen. Eine unmittelbare kritische Konsequenz für Hartmanns Schichtungsontologie scheint damit jedoch nicht gegeben zu sein.

Eine Übertragung seiner Kritik auf das ontologische Schichtungsmodell hatte Gehlen in seiner Schrift gar nicht im Sinne. Jedenfalls finden sich in den späteren Auflagen seines Werkes einige positive Äußerungen zu Hartmanns Schichtenlehre. So akzeptiert er beispielsweise Hartmanns Gesetz der Wiederkehr, wenn er sein Ziel dahingehend definiert, trotz der Irreduzibilität des Geistes, Kategorien herauszustellen, die im Sinne Hartmanns durch alle Schichten durchlaufen und damit das Zusammenbestehen der Schichten ermöglichen. Mit seiner Kategorie der Entlastung glaubt Gehlen eine solche durchlaufende Kategorie gefunden zu haben. Zustimmend bezieht sich Gehlen auch auf die zentralen Schichtungsgesetze Hartmanns, wenn er auf die Stärke des Tieferen und die Autonomie und Schwäche des Höheren verweist. (vgl. Gehlen 1940, S.12, 67) Auch Hartmanns These, dass der Mensch in einer kausal nicht determinierten Welt sich keine Zwecke setzen könnte und dass Kausalität folglich die Bedingung der Finalität sei, findet Gehlens Zustimmung. (vgl. Gehlen 1940, S.184) Gehlen macht schließlich sogar einen Vorschlag, wie man die Bemerkung Hartmanns, dass Leben an seltene kosmische Bedingungen gebunden sei, verallgemeinern könne: „... es sieht so aus, als ob unwahrscheinliche Bedingungen der je niederen Schicht erfüllt sein müssen, wenn die Phänomene der höheren eintreten sollen. So würde die Sonderstellung des Menschen eine ontologische Dignität haben...“ Trotz seiner Kritik an Schelers anthropologischem Stufenmodell hat Gehlen sich also in den späteren Auflagen seines Hauptwerks durchweg positiv zu Hartmanns Schichtenlehre geäußert.

In seiner Rezension von Gehlens Werk von 1941 hat Hartmann nicht nur Gehlens anthropologischen Ansatz gewürdigt, sondern sich auch mit fundamentalphilosophischen Problemen von Gehlens Theorie auseinandergesetzt. Das erste Problem betrifft Gehlens Ablehnung des Gegensatzes von Leib und Seele. Hartmann führt dagegen an, dass trotz der Anerkennung der Einheit des Menschen die Verschiedenheit der Gegebenheitsweise von körperlichen und seelischen Prozessen unbestreitbar und das psychophysische Problem daher keineswegs schon gelöst sei. (III 390) Das zweite Problem betrifft Gehlens (anscheinende) Ablehnung der Schichtung überhaupt. Hartmann wendet dagegen ein, dass die Leugnung der Schichtung auf ein gewaltsam vereinfachtes Weltbild hinauslaufe, das in gefährlicher Nähe zu spekulativ metaphysischen Theorien stehe, die auch die geistig-geschichtliche Welt als Teil des organischen Lebens betrachten. (III 390) Im Übrigen versucht Hartmann zu zeigen, dass Gehlens programmatische Ablehnung der Schichtungsidee mit seiner tatsächlichen Lehre nicht übereinstimmt. Zunächst taste Gehlen die Unterscheidung von anorganischer und organischer Natur überhaupt nicht an. Aber auch die Differenz zwischen organischem Sein und seelischer Innenwelt werde von Gehlen ebenso wenig verwischt wie die Eigenart des objektiv-geistigen Lebens bestritten. Tatsächlich arbeite Gehlen stets nur die Zusammenhänge der höheren Phänomene mit ihren biologischen Grundlagen heraus, ohne das Höhere auf das Tiefere zu reduzieren. Gehlen leugne also tatsächlich keineswegs die Schichtenunterschiede. Zu seiner Ablehnung der Schichtungsidee sei Gehlen offenbar nur gelangt, weil er diese Idee nur in metaphysisch zugespitzter Fassung gekannt habe. Mehr als die Anerkennung der Bedingtheit durch das Tiefere und die Eigenständigkeit des Höheren sei jedoch für die Schichtenlehre gar nicht erforderlich. Um die Einheit des Menschen zu wahren, ist es nach Hartmann daher nicht notwendig, dass die seelisch-geistigen Phänomene sich als kausale Folgen physiologischer Vorgänge oder als bloße körperliche Funktionen begreifen lassen; es genüge vielmehr, dass seelisch-geistige Funktionen zu den Bedingungen gehören, unter denen das Mängelwesen Mensch überhaupt lebensfähig sei. Trotz seiner Ablehnung der Schichtungsidee wird Gehlens Theorie daher nach Hartmann einer an den Phänomenen orientierte Schichtenlehre sehr wohl gerecht. (III 391f)