2.3. Die Phänomenologie


In der Metaphysik der Erkenntnis versucht Hartmann, in kritischer Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Husserls (aber auch Schelers) den kritischen Realismus zu begründen. Da Husserl in seinem Werk Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913) eine Wende zum transzendentalen Idealismus vollzogen hatte, stellte sich für Hartmann damit die Aufgabe, die für seine Erkenntnistheorie verwertbaren Bestandteile aus Husserls Konzeption herauszufiltern. Die Phänomenologie war für ihn vor allem in methodologischer Hinsicht wichtig. Die spezielleren Analysen und Theorien Husserls haben ihn dagegen häufig wenig beeindruckt. In einem Brief an Meinong schreibt Hartmann am 28. September 1915 sogar, dass Husserls Ideen ihn ausgesprochen enttäuscht hätten. (vgl. Philosophenbriefe, aus der wissenschaftlichen Korrespondenz von Meinong, Graz 1965, S.214.) Zur phänomenologischen Bewegung wird man Hartmann daher, zumindest was seine Erkenntnistheorie betrifft, nur in einem sehr weiten Sinne rechnen können.

Im Folgenden soll zuerst Hartmanns Verhältnis zu Husserls Phänomenologie untersucht werden. Danach wird auf die phänomenologische Kritik an Hartmanns Metaphysik der Erkenntnis eingegangen, wie sie von Linke, Scheler und Heidegger vorgetragen wurde. Den Abschluss bildet Hartmanns Replik auf die phänomenologische Kritik.

2.3.1. Edmund Husserl

Husserls Phänomenologie will eine Wesenswissenschaft vom reinen Bewusstsein sein. Methode und Thematik sind in der Konzeption der Phänomenologie insofern untrennbar miteinander verknüpft, als die Thematik des reinen Bewusstseins nur einer philosophischen Einstellung überhaupt zugänglich sein soll. Die natürliche Einstellung des Lebens und der empirischen Wissenschaften ist nach Husserl auf die Welt gerichtet, wobei deren Realität und Erkennbarkeit als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Husserl bezeichnet diese Einstellung wegen ihres fehlenden erkenntnistheoretischen Problembewusstseins auch als dogmatisch. Die natürliche Einstellung ist also realistisch. Zu einer spezifisch philosophischen oder phänomenologischen Einstellung gelangt man nach Husserl, wenn man sich aller Realitätsannahmen, einschließlich allen empirisch-wissenschaftlichen Wissens, enthält und damit die Existenz der natürlichen Welt sozusagen einklammert. (Vgl. Husserl 1913, S.46f, 53f) Das, was nach dieser Urteilsenthaltung (Epoché) übrig bleibt, ist nach Husserl das „reine Bewusstsein“, d.h. das Bewusstsein, wie es sich selbst unmittelbar gegeben ist. Während für die natürliche Einstellung das Bewusstsein einerseits eine Eigenschaft von Lebewesen und andererseits stets Bewusstsein von der Welt ist, wird bei der phänomenologischen Konzentration auf das reine Bewusstsein sowohl von seiner organischen Bedingtheit als auch von seinem Realitätsbezug ganz abgesehen. Das in diesem Sinne reine Bewusstsein ist nach Husserl das bisher übersehene Forschungsfeld der Phänomenologie. (vgl. Husserl 1913, S.58f, 69f, 94, 104. Aufgabe der Phänomenologie ist es, das reine Bewusstsein in seinem Wesensgehalt philosophisch neutral zu beschreiben. Da kein philosophischer Standpunkt die Beschreibung des anschaulich Gegebenen bestimmen darf, liefert die Phänomenologie nach Husserl eine voraussetzungsfreie Bestandsaufnahme der Phänomene. (vgl. Husserl 1913, 33, 38, 121)

Den in der Phänomenologie enthaltenen realphilosophischen Grundimpuls, dem Husserl mit seiner Devise „Zurück zu den Sachen!“ programmatisch Ausdruck gegeben hat, hat Hartmann wie viele seiner Zeitgenossen als Befreiung von der thematischen Enge des Neukantianismus begrüßt. (vgl. P. Lübcke 1992, S.115) Mit der phänomenologischen Methode hat er sich daher im Ausgangspunkt solidarisch gefühlt. (MdE V) Diese Methode bedeutet für ihn zunächst, dass die Philosophie von einer möglichst breiten Phänomenbasis ausgehen muss, um Einseitigkeiten und Irrwege des spekulativen Denkens zu vermeiden. Der rationalistischen Suche nach dem einen sicheren Ausgangspunkt des Philosophierens stellt Hartmann daher die Forderung nach einem Maximum an Gegebenheit entgegen. Völlig einverstanden ist Hartmann auch mit dem Postulat der philosophischen Neutralität der Phänomenologie – „diesseits von Idealismus und Realismus“. In zweierlei Hinsicht wendet er sich aber gegen Husserl. Zunächst wendet er ein, dass Phänomenologie keine umfassende philosophische Methode ist, sondern nur die erste Stufe philosophischer Methodik darstellt. Da die neutrale Beschreibung von Phänomenen weder Probleme stellen noch Probleme lösen könne, müsse die Phänomenologie durch Aporetik und Theorie der Erkenntnis ergänzt werden. (MdE 39f; AdrW 534f) Außerdem wehrt Hartmann sich entschieden gegen den Versuch Husserls, über die phänomenologische Methode zu einer Erneuerung des transzendentalen Idealismus zu gelangen. Daher findet bei ihm der Gegensatz von natürlicher und philosophischer Einstellung eine ganz andere erkenntnistheoretische Bewertung als bei Husserl. Während Husserl durch die Epoché eine methodische Weltaufhebung vollzieht, um die reinen Bewusstseinsphänomene zu beschreiben, betrachtet Hartmann den Realismus der natürlichen Einstellung (und der empirischen Wissenschaften) als gerechtfertigte Komponente des Erkenntnisphänomens. Husserls Unterscheidung zwischen natürlicher und philosophischer Einstellung entspricht damit zwar inhaltlich Hartmanns Unterscheidung zwischen „intentio recta“ und „intentio obliqua“, doch erhält diese Unterscheidung bei ihm gerade die umgekehrte Bewertung. Die natürliche Einstellung auf den Gegenstand ist nach Hartmann von den spezifisch philosophischen Verirrungen künstlicher Selbstreflexion frei.

Ein Hauptergebnis von Husserls phänomenologischer Analyse des Bewusstseins ist die „Intentionalität“ des (erkennenden) Bewusstseins. Im Unterschied zu Gefühlen und Empfindungen ist (erkennendes) Bewusstsein stets auf etwas gerichtet, es hat daher immer ein „intentionales Objekt“, selbst wenn es dem Irrtum unterliegt. (vgl. Husserl 1913, S.64f) Intentionale Erlebnisse können nach Husserl entweder auf andere Erlebnisse desselben Bewusstseins oder auf Gegenstände außerhalb seines Erlebnisstroms gerichtet sein. Im ersten Fall handelt es sich um immanente, im zweiten um transzendente Wahrnehmung. (vgl. Husserl 1913, S.68ff) Damit ergibt sich nach Husserl, ganz im Geiste Descartes, die Differenz von Bewusstsein und materieller Realität als den zwei grundlegenden Seinsweisen. Das Bewusstsein ist der Bereich der Immanenz, dem der Bereich der transzendenten, in Abschattungen gegebenen Dinge gegenübersteht. Während jede immanente Wahrnehmung ihren Gegenstand verbürgt, ist die Wahrnehmung von Dingen stets der Täuschung ausgesetzt und die ganze Dingwelt nur präsumtive Wirklichkeit. (vgl. Husserl 1913, 70f, 75ff. 85ff) Auf der Basis dieser Unterscheidung von transzendenter und immanenter Wahrnehmung glaubt Husserl, die Abbildtheorie der Erkenntnis widerlegen zu können. Eine phänomengerechte Analyse zeigt für ihn, dass die Wahrnehmung sehr wohl an die Dinge herankommt. In der transzendenten Wahrnehmung sind die Dinge (der Täuschungsmöglichkeit ungeachtet) stets unmittelbar, bewusstseinsmäßig gegeben, sie sind also keineswegs durch Zeichen oder Bilder vermittelt gegeben. Wäre die Wahrnehmung der Dinge durch Symbole vermittelt, so würde man etwas anschauen, das etwas anderes vertreten würde. Von einem Zeichen- oder Bildbewusstsein kann in der Wahrnehmung nach Husserl jedoch keine Rede sein. (vgl. Husserl 1913, 79, 97) Husserl wendet sich auch gegen die Möglichkeit, das wahrgenommene Ding von dem intentionalen Objekt zu trennen und nur letzteres dem Bewusstsein beizulegen, weil damit von zwei Realitäten nur eine gegeben wäre. (vgl. Husserl 1913, 186)

Hartmann hat seine Rechtfertigung des Realismus mit einer Anerkennung der Abbildtheorie der Erkenntnis verknüpft und sich damit bewusst in Gegensatz zu Husserls Phänomenologie gestellt. Mit einer nicht überhörbaren Spitze gegen Husserl rechnet er das „innere Bild“ ausdrücklich zum Erkenntnisphänomen. Ein Bild, das zum Reich der Bewusstseinsimmanenz gehört und gerade dadurch transzendente Objekte der Realität repräsentieren kann, ist nach Hartmann, angesichts der Phänomene des Irrtums und der Täuschung, eine unvermeidliche erkenntnistheoretische Annahme. Auf eine weitergehende Auseinandersetzung mit Husserl hat Hartmann sich nicht eingelassen. In der 2. Auflage der Metaphysik der Erkenntnis hat er sich allerdings gegen die von phänomenologischer Seite erhobenen Einwände geäußert und dabei vor allem die Problematik des intentionalen Gegenstands herausgestellt.

Der Dualismus von Bewusstsein und materiellen Objekten und die darauf sich stützende Kritik der Abbildtheorie vollzieht Husserl auf einer Stufe der Reflexion, die die Wende zum transzendentalen Idealismus noch nicht vollzogen hat - vergleichbar Kants empirischem Realismus. Auf der letzten, transzendentalen Stufe philosophischer Reflexion erweist sich nach Husserl alles Transzendente als im reinen Bewusstsein konstituiert. Die materielle Natur ist konstituierte intentionale Einheit und daher intentionales Korrelat des reinen Bewusstseins. Es gibt also kein objektives Sein, das unabhängig von dem es konstituierenden reinen Bewusstsein wäre, vielmehr ist alles objektive Sein intentional. (vgl. Husserl 1913, S.92f, 95, 102) Husserl erneuert damit die idealistische These der Korrelativität von Objekt und Subjekt, wehrt sich aber gegen eine Verwechslung mit Berkeley. Der transzendentale Idealismus mache die natürliche Welt nicht zum subjektiven Schein, sondern hebe nur ihre philosophische Verabsolutierung auf. (vgl. Husserl 1913, S.101, 107)

Husserls Erneuerung des transzendentalen Idealismus war für Hartmann ein Rückfall in idealistisches Denken. Die Voraussetzung für diesen Rückfall hat er in Husserls unvollständiger Beschreibung des Erkenntnisphänomens gesehen. Durch die Epoché wird nach seiner Ansicht der Realitätsbezug vom Erkenntnisphänomen ausgeblendet und damit das Erkenntnisproblem gerade verfehlt. (MdE 37f) Mit der Anerkennung der Berechtigung des Realismus verlässt Hartmann die zu Beginn seiner Untersuchungen eingenommene standpunktfreie Ausgangsbasis. Wenngleich er die Unvollständigkeit der Husserlschen Phänomenologie der Erkenntnis kritisiert, ja sogar als Verrat an der phänomenologischen Methode betrachtet (AdrW 535), betont er doch zugleich, dass durch die phänomenologische Methode selber eine Rückkehr zum transzendentalen Idealismus in keiner Weise vorgezeichnet sei. Die phänomenologische Methode sei vielmehr tatsächlich philosophisch neutral. Wenn Husserl dennoch in den Idealismus zurückfalle, so liege dies nicht an seiner Methode, sondern an von außen herangetragenen idealistischen Vorurteilen. Der phänomenologische Idealismus ist daher für Hartmann eine Folge der inkonsequent praktizierten phänomenologischen Methode. (MdE 171f)


2.3.2. Phänomenologische Kritik an der
Metaphysik der Erkenntnis

2.3.2.1. Paul Linke

Einwände gegen die Metaphysik der Erkenntnis hat von phänomenologischer Seite zunächst Paul Linke vorgebracht. Er hat seine Kritik vermutlich Hartmann brieflich mitgeteilt, so dass dieser in der zweiten Auflage seines Werks von 1925 ausführlich auf sie eingehen konnte. Linke hat nach dieser Erwiderung Hartmanns seine Kritik noch einmal überarbeitet und in dem Aufsatz „Bild und Erkenntnis“ 1925/26 veröffentlicht. Das Grundanliegen Linkes ist die Widerlegung von Hartmanns „Satz des Bewusstseins“. Gegen die Auffassung, dass das Bewusstsein eine in sich geschlossene Welt ist, wendet sich Linke mit der These der Intentionalität des Bewusstseins. Aktuell erleben kann man nach Linke zwar nur die eigenen Bewusstseinszustände, aber alles, was man denkt, meint und vorstellt, ist nie Teil des aktuell erlebenden Bewusstseins. (vgl. Linke 1925/26, S.300f) Nach Linke verdient dieser intentionale Bewusstseinsbegriff, der sich auf die Unterscheidung von Akt und Gegenstand stützt, gegenüber dem gewöhnlichen Bewusstseinsbegriff, der alles irgendwie Gedachte, Gemeinte und Vorgestellte zum Inhalt des Bewusstseins rechnet, phänomenologisch den Vorzug. Wenngleich in intentionalen Akten Gegenstände ganz unmittelbar erfasst werden, ist nach Linke alles Vorgestellte außerhalb des Bewusstseins, und zwar auch ganz unabhängig davon, ob es nun real ist oder nicht. (vgl. Linke 1925/26, S.320, 324, 338) Für die phänomenologisch konstatierbare Gegebenheitsweise mache es eben keinen Unterschied, ob ein Phänomen auch wirklich sei oder nicht. (vgl. Linke 1925/26, S.336) Linkes Ausführungen zum Verhältnis von intentionalem und realem Gegenstand sind freilich nicht ganz klar, wenn er einerseits mit Hartmann den Unterschied von intentionalem und realem Gegenstand anerkannt, andererseits jedoch Husserls These der Ununterschiedenheit beider zustimmt. (vgl. Linke 1925/26, S.340, 350)

Der zweite Hauptangriffspunkt von Linkes Kritik ist Hartmanns Abbildtheorie. Zunächst versucht er die Abbildtheorie als zirkulär nachzuweisen. Ausgangspunkt seiner Argumentation ist die Definition, derzufolge ein Bild ein Gegenstand ist, mit dessen Hilfe ein anderer, ihm ähnlicher Gegenstand vorgestellt wird. Da nun im Definiens selber schon auf ein Vorstellen rekurriert werde, könne Vorstellen nicht als Abbildung erklärt werden. (vgl. Linke 1925/26, S.3314f) Dass es auch andere, nicht auf Bewusstseinsbegriffe Bezug nehmende Explikationen des Bildbegriffs geben könnte, wird von Linke dabei nicht weiter beachtet. Linkes zweiter Einwand besagt, dass das Bild kein phänomenologischer Befund ist. Während das Bewusstsein von Akten zwar gewöhnlich auch erst im Zuge nachträglicher Besinnung entstehe, kann Linke bei einer solchen nachträglichen Reflexion auf Täuschungen, die Hartmann zur Rechtfertigung von Bildern verwendet, nichts von einem Bilde entdecken. (vgl. Linke 1925/26, S.342, 345) Wenn es jedoch gar keine Abbilder im Erkenntnisprozess gibt, dann ist nach Linke auch Hartmanns erkenntnistheoretische Frage, wie ein Bild den Gegenstand wiedergeben kann, verfehlt. Die Abbildtheorie ist daher nach Linke eine „irreführende intellektualistische Interpretation“. (vgl. Linke 1925/26, S.329ff, 337, 345)

2.3.2.2. Max Scheler

Eine originelle Auseinandersetzung mit dem Realismusproblem hat Max Scheler in seinem 1927 entstandenen Aufsatz „Idealismus-Realismus“ geliefert. Da Hartmann und Scheler während ihrer gemeinsamen Lehrtätigkeit an der Universität Köln (1925-1928) einen regelmäßigen Gedankenaustausch pflegten, ist dieser Aufsatz vor allem auch eine Auseinandersetzung mit Hartmann. Schelers Stellungnahmen zu Hartmann sind trotzdem nicht immer einfach zu erkennen, weil er sich primär mit den Positionen von Idealismus und Realismus auseinandersetzt und erst sekundär ihre Vertreter miteinbezieht.

Die Grundintention von Schelers Abhandlung besteht darin zu zeigen, dass man nicht zwischen Idealismus und Realismus wählen muss. (vgl. Scheler 1927, S.186) Scheler vertritt damit eine neutrale erkenntnistheoretische Position, sozusagen „diesseits von Idealismus und Realismus“, wobei er jedoch, im Unterschied zu Hartmann, diese Neutralität nicht auf bestimmte vorbereitende Teile der Erkenntnistheorie beschränkt, sondern eine erkenntnistheoretische Grundposition formulieren will. Ob Scheler Hartmanns systematische Position als eine solche neutrale Position missversteht und sich daher fälschlich in Übereinstimmung mit ihm fühlt, bleibt unklar. Der entscheidende Grund für Schelers Neutralitätsthese ist, dass er die gemeinsame falsche Voraussetzung von Idealismus und Realismus gefunden zu haben glaubt. Den Irrtum beider Positionen sieht Scheler darin, Dasein und Sosein als untrennbar hinsichtlich ihrer möglichen Gegebenheit im Bewusstsein zu betrachten. Dagegen betont Scheler, dass alles Sosein dem Bewusstsein immanent sein kann, während das Dasein des Gegenstands transzendent bleibt. Der Idealismus habe daher zwar Recht, dass das Sosein „in mente“ sein könne, aber er folgere falsch, dass damit auch das Dasein „in mente“ sein müsse. Der Realismus habe demgegenüber zwar Recht, dass das Dasein der Gegenstände stets bewusstseinstranszendent sei, doch er schließe falsch, dass damit auch das Sosein immer transzendent bleibe und nur durch Bilder oder Symbole im Bewusstsein vertreten werde. (vgl. Scheler 1927, S.186; Stegmüller 1969, S.105f) Ohne auf die Frage einzugehen, ob durch die Annahme, dass das Sosein zugleich „in mente“ und „extra mentem“ sein kann, nicht doch eine phänomenologische Version der Abbildtheorie vorausgesetzt wird, entwickelt Scheler anschließend eine Kritik der Abbildtheorie. Jede Theorie, die Erkenntnis auf eine unkonstatierbare Übereinstimmung zwischen Bild und Gegenstand zurückzuführen versucht, hält Scheler für ganz unzureichend und stimmt in dieser Hinsicht allen traditionellen idealistischen Einwänden, insbesondere auch dem Argument der Weltverdoppelung, ausdrücklich zu. (vgl. Scheler 1927, S.201) Die Abbildtheorie sei nur ein gleichnishaftes Bild, das als Erklärung zirkulär sei, da die Rede von Bildern Erkenntnis bereits voraussetze. Scheler schließt sich hier im Wesentlichen dem Zirkel-Einwand an, wie er von Linke vorgebracht wurde. (vgl. Scheler 1927, S.202) Über Linke hinausgehend möchte Scheler die Abbildtheorie auch rein phänomenologisch zu widerlegen. Dazu weist er auf das Phänomen der Täuschung hin und behauptet, dass im Fall einer durchschauten Täuschung das, was eben noch das Sosein einer Sache zu sein schien, nun zum Bilde geworden sei und an seine Stelle das wahre Sosein trete. Bei tatsächlicher Erkenntnis sei daher gerade kein Bild gegeben. (vgl. Scheler 1927, S.202f) In diesem Kontext diskutiert Scheler jedoch nicht die Frage, ob der Begriff des Abbildes, wenn er schon kein brauchbares Kriterium von Erkenntnis und Wahrheit abgibt, vielleicht doch als Begriff von Erkenntnis geeignet sein könnte. Außerdem geht Scheler mit keinem Wort darauf ein, dass das Phänomen der Täuschung für Hartmann gerade das entscheidende Argument für die Annahme von Abbildern ist.

Die Intentionalität des Bewusstseins, die Linke so entschieden gegen Hartmanns Satz des Bewusstseins ausspielt, sieht Scheler ganz im Einklang mit Hartmanns These der Transzendenz der Erkenntnis. Mit Hartmann rechnet er den Realitätsbezug zum Phänomen der Erkenntnis. Zugleich betont er jedoch, dass die Berechtigung des Realitätsanspruchs im Einzelfall stets zu begründen ist. Scheler fühlt sich dennoch in Übereinstimmung mit Hartmann und im Widerspruch zu Husserl, wenn er sagt, dass es dem intentionalen Gegenstand nicht anzusehen ist, ob ihm Realität zukommt. (vgl. Scheler 1927, S.191) Scheler wendet sich schließlich auch dagegen, der Innenwelt oder der Außenwelt irgendeinen Vorrang der Gegebenheit zu geben. Weder sei die Innenwelt das Unmittelbare und die Außenwelt bloß erschlossen, noch sei umgekehrt die Außenwelt das Unmittelbare und die Innenwelt vermittelt erkannt. Scheler rechnet Hartmann zu den Anhängern der Unmittelbarkeit der Innenwelt und kritisiert dessen Versuch, die Realität der Außenwelt beweisen zu wollen. (vgl. Scheler 1927, S.194f) Im Anschluss an diese kritischen Überlegungen entwickelt Scheler seine gegen Husserl gerichtete Auffassung, dass Realität in Widerstandserlebnissen gegeben ist und dass Bewusstsein die Folge, nicht aber der Ursprung solcher Erlebnisse ist. (Scheler 1927, S.208ff) - Mit diesem „voluntativen Realismus“ hat Scheler einen bedeutenden Einfluss auf Hartmann ausgeübt und ihn zur Lehre von den emotional-transzendenten Akten inspiriert.

2.3.2.3. Martin Heidegger

Eine teils maskierte, teils offene Auseinandersetzung mit Hartmanns Realismus hat Martin Heidegger in Sein und Zeit
(1927) unternommen. Die erkenntnistheoretische Problematik spielt in Heideggers Werk überall dort eine Rolle, wo er mit seiner These der ursprünglichen Erschlossenheit der Welt den Intentionalitätsbegriff radikalisiert. (vgl. Stegmüller 1969, S.143) Die traditionelle Subjekt-Objekt-Problematik kritisiert Heidegger als eine künstliche Abstraktion, die auf einer ontologisch unangemessenen Auslegung des ursprünglich erfahrenen und erlebten „In-der-Welt-Seins“ basiert. Wie sein Verweis auf die
Metaphysik der Erkenntnis zeigt, betrachtet er Hartmann als den bedeutendsten zeitgenössischen Vertreter dieser verfehlten Problemstellung. (vgl. P. Lübcke 1992, S.167f) Der Fehler der traditionellen Erkenntnistheorie (bis Hartmann) besteht nach Heidegger vor allem darin, dass das erkennende Subjekt nach der Seinsart des innerweltlich Vorhandenen begriffen wird. (vgl. Heidegger 1927, S.59) Da das Subjekt aber gerade keine äußerlichen, „vorhandenen“ Eigenschaften hat, gelangt man nach Heidegger zur Konzeption des Bewusstseins als eines inneren Kastens, der der Außenwelt gegenübersteht. Als Folge davon entstehen dann die verfehlten Fragestellungen Abbildtheorie, wie ein Subjekt aus seiner inneren Sphäre herauskomme etc. (vgl. Heidegger 1927, S.60) In einer phänomengerechten Beschreibung erweise sich Erkennen dagegen als ein „Seinsmodus des Daseins als In-der-Welt-Sein“. (vgl. Heidegger 1927, S.61) Erkennen ist nach Heidegger damit ein „defizienter Modus“ des „Besorgens“, insofern in der bloßen Betrachtung der Dinge von praktischen Nützlichkeitsgesichtspunkten abgesehen wird und eine Konzentration auf das Vernehmen des Vorhandenen stattfindet. Erkennen als eine Weise des In-der-Welt-Seins dürfe nicht als ein Vorgang betrachtet werden, durch den ein Subjekt sich Vorstellungen beschaffe. (vgl. Heidegger 1927, S.61) Da Erkennen sich immer schon bei den Gegenständen der Welt aufhalte, bedürfe es auch keiner Deutung der Empfindungen, um durch einen Sprung zur Außenwelt zu gelangen. (vgl. Heidegger 1927, S.164) Heidegger spielt damit seine These der ursprünglichen Erschlossenheit der Welt gegen die Abbildtheorie aus.

Außer dieser Polemik gegen die Abbildtheorie findet sich in Sein und Zeit eine Auseinandersetzung mit den Positionen von Idealismus und Realismus, die auch auf Hartmann Bezug nimmt. Auf den ersten Blick scheint Heidegger ebenfalls auf eine Neutralitätsthese zuzusteuern, wenn er sich gleichzeitig gegen Idealismus und Realismus wendet. Der Realismus akzeptiert nach Heidegger zu Recht das „Vorhandensein von innerweltlich Seiendem“. Im Unterschied zum gewöhnlichen Realismus betont Heidegger jedoch, dass die Realität weder beweisbar noch beweisbedürftig ist. (vgl. Heidegger 1927, S.207) Außerdem ist für ihn die Welterschlossenheit ein ursprüngliches Phänomen und als solches nicht erklärbar, während der Realismus den verfehlten Versuch unternimmt, Erkenntnis durch reale Vorgänge in der Welt zu erklären. (vgl. Heidegger 1927, S.207) Heideggers Stellungnahme zum Idealismus ist ausgesprochen unorthodox. Alle Formen des erkenntnistheoretischen Idealismus, die das Sein auf Bewusstsein oder auf ein Subjekt zurückführen möchten, lehnt er als „methodische Naivität“ ab. Eine Kritik des Idealismus, wie sie Hartmann unternimmt, hält Heidegger daher für überflüssig. Verstehe man den Idealismus dagegen im Sinne seiner Grundthese, „dass Sein nicht durch Seiendes erklärt werden kann“, dann habe er die „einzige und rechte Möglichkeit philosophischer Problematik“ erfasst und erweise sich darin dem Realismus überlegen. (vgl. Heidegger 1927, S.207) Ganz im Gegensatz zu Hartmann versucht Heidegger damit offenbar, Ontologie gegen den erkenntnistheoretischen Realismus auszuspielen. Daher sagt er, dass die erkenntnistheoretische Fassung des Realitätsproblems ontologisch in die „existenziale Analytik des Daseins“ zurückgeholt werden muss. (vgl. Heidegger 1927, S.208) Im Sinne dieser Strategie wendet Heidegger gegen Hartmann ein, mit seiner Auffassung der Erkenntnis als Seinsverhältnis dem „Dasein“ nicht gerecht zu werden. Mit der Kritik, dass Hartmann keine Ontologie des Daseins versucht, verbindet Heidegger das herablassende Lob, dass Hartmann in einen kritischen Realismus gedrängt worden sei, „der im Grunde dem Niveau der von ihm exponierten Problematik völlig fremd ist.“ (Heidegger 1927, S.208) Sieht man von Polemik und Rhetorik ab, dann geht Heideggers Kritik über das bekannte phänomenologische Argument, dass aufgrund der Intentionalität des Bewusstseins Bilder nicht zum Erkenntnisphänomen gehören, wohl kaum hinaus. Außerdem ist Heidegger mit seiner Ablehnung des Idealismus und seiner Anerkennung der bewusstseinsunabhängigen Realität der Außenwelt weniger von Hartmanns Position entfernt, als er glauben machen möchte.

2.3.2.4. Hartmanns Replik

In der zweiten Auflage der Metaphysik der Erkenntnis hat Hartmann auf die Einwände von phänomenologischer Seite ausführlich geantwortet. Er nennt zwar keine Namen, doch bezieht er sich vor allem auf Linke. Gegenüber der phänomenologischen Lehre, dass alles Bewusstsein intentional ist und dass der intentionale Gegenstand stets außerhalb des Bewusstseins liegt, hält Hartmann ausdrücklich an seiner Auffassung fest, dass das Bewusstsein eine in sich geschlossene Welt ist, die erst durch Erkenntnis transzendiert wird. „Es gibt das ‚Bewusstsein’ als geschlossene Welt in sich.“ (MdE 108) Die Phänomenologie liefere mit ihrer Betonung der Intentionalität des Bewusstseins eben nur eine Analyse des Bewusstseinsaktes. Da Intentionalität allem Bewusstsein eigentümlich sei, könne Intentionalität mit der Transzendenz der Erkenntnis nicht identisch sein. Wie der neukantianische Idealismus verfehlt damit nach Hartmann auch die Phänomenologie das Erkenntnisphänomen schon im Ansatz. (MdE 106f, 109)

Die phänomenologische Kritik, dass Bilder keine Phänomene sind, weist Hartmann ebenfalls zurück. Zwar ist das Bewusstsein aufgrund seiner natürlichen Richtung zunächst Gegenstandsbewusstsein, doch gibt es daneben auch ein Vorstellungsbewusstsein, das zwar nicht so unmittelbar ist, aber doch nachträglich eintreten kann. Jedes aufgedeckte Täuschungs- und Irrtumsphänomen, ja schon der bloße Gedanke an eine mögliche Täuschung, enthält nach Hartmann ein Bewusstsein davon, dass alle Erkenntnis durch Bilder oder Vorstellungen vermittelt ist. Da dieses Vorstellungsbewusstsein zum alltäglichen Bewusstsein der Menschen gehört, muss es nach Hartmann auch zum Phänomen der Erkenntnis gerechnet werden. Damit rechtfertigt sich für ihn auch die realistische Auffassung, dass man Vorstellungen hat und (durch sie) reale Objekte erfasst. Die phänomenologische Kritik, dass die Abbildtheorie eine verfehlte „Kastentheorie“ des Bewusstseins ist, weist Hartmann damit als eine geistreiche, aber phänomenologisch gerade verfehlte Kritik zurück. (MdE 107f, 111, 114)

Das Erkenntnisphänomen ist nach Hartmann ein bemerkenswert komplexes Phänomen, insofern das alltägliche Bewusstsein der Menschen mit Mutmaßungen, Meinungen, Täuschungen, Irrtümern etc. durchsetzt ist und außerdem ein Wissen um Grenzen und Fortschritte menschlicher Welterkenntnis enthält. Von diesem komplexen Phänomen hat nach Hartmann die Erkenntnistheorie auszugehen. Husserls Phänomenologie gehe demgegenüber von einem schlichten, naiven Bewusstsein aus, das es in der Kindheit und vielleicht in einer ferner kulturlosen Vergangenheit gegeben haben mag, das jedoch der erwachsene Kulturmensch nicht mehr kenne. Dass die Phänomenologie von einer solchen künstlichen Abstraktion ausgehe, hält Hartmann für eine erstaunliche Verirrung und für einen Widerspruch gegen ihr eigenes phänomenologisches Prinzip. (MdE 113f, 119f)

Die phänomenologische Intentionalitätslehre betrachtet Hartmann als ein „Rudiment der alten Immanenztheorie des 19. Jahrhunderts“. (MdE 109) Mit der Konzentration auf die Intentionalität habe man sich von vornherein mit der Immanenz des Bewusstseins begnügt. Der intentionale Gegenstand sei eben, im Unterschied zum realen Objekt, stets an Akte gebunden und folglich, allen Beteuerungen zum Trotz, bewusstseinsimmanent. „Der intentionale Gegenstand besteht ‚von Gnaden’ des Aktes (Intention), der reale unabhängig vom Akt.“ (MdE 111) Die Differenz von intentionalem und realem Gegenstand wird nach Hartmann von der Phänomenologie verschleiert, wenn sie sagt, dass jeder intentionale Gegenstand außerdem auch real sein könne. Hartmann verwirft daher den neuen phänomenologischen Bewusstseinsbegriff, wonach nur Ichzustände immanent sind, während Vorstellungen, Gedanken und Phantasien aufgrund ihrer intentionalen Struktur stets außerhalb des Bewusstseins sind. Hartmann hält demgegenüber an dem traditionellen Bewusstseinsbegriff fest, dass nur solche Gegenstände transzendent sind, die unabhängig vom Erkenntnisakt existieren. (MdE 114f) Da die Phänomenologie die Differenz zwischen intentionalem und realem Gegenstand nicht aufzuheben vermöge, stellt sich nach Hartmann damit die Frage, wohin der intentionale Gegenstand gehört, wenn er einerseits nicht mit dem realen Gegenstand identisch ist und andererseits auch kein Erkenntnisgebilde sein soll. Eine einfache Lösung dieser Frage ergibt sich für ihn durch die Deutung, dass der intentionale Gegenstand in Wahrheit doch nichts anderes als das so vehement abgelehnte Bild ist. Der intentionale Gegenstand fungiert eben als Repräsentation des realen Gegenstandes und gehört damit als Bild zur Subjektsphäre. Und nur weil der intentionale Gegenstand, aufgrund einer Projektion, in der Außenwelt vorgestellt wird, kann er für etwas An-sich-Seiendes gehalten werden. (MdE 110, 116, 122ff) Mit dieser Deutung versucht Hartmann den phänomenologischen Begriff von der Intentionalität des Bewusstseins in seine realistische Erkenntnistheorie zu integrieren.

In seinem Vortrag Zum Problem der Realitätsgegebenheit (1931) hat Hartmann auch eine Kritik an der Phänomenologie vorgetragen. Er kritisiert auch hier, dass durch die Konzentration auf den intentionalen Gegenstand der Realitätsbezug unterschlagen und das Erkenntnisphänomen schon im Ansatz verfehlt wird. Intentionalität sei eine Eigenschaft aller Bewusstseinsakte. Wenn nämlich Traum und Phantasie einen intentionalen Gegenstand haben, so ist dies für ihn ein Zeichen dafür, dass der intentionale Gegenstand noch diesseits von wahr und falsch steht. (PdR 9) Hartmann betont damit wieder die Differenz von intentionalem und realem Gegenstand. Im Unterschied zu bloßem Denken, Vorstellen und Phantasieren ist Erkennen ein transzendenter Akt, nämlich ein Erfassen von etwas An-sich-Seiendem. Während der intentionale Gegenstand als Denk- und Vorstellungsgegenstand in seinem Gegenstandsein bzw. Objektsein aufgehe, ist der Erkenntnisgegenstand, da er unabhängig vom Erkenntnisakt bestehe, gerade „übergegenständlich“. Die phänomenologische Intentionalitätslehre verfällt dagegen nach Hartmann in den bekannten idealistischen Grundfehler, Sein und Gegenstand (Objekt) gleichzusetzen. (PdR 10) Hartmanns Vortrag bringt damit in seiner Kritik der Phänomenologie nichts wesentlich Neues.
Im Anschluss an Hartmanns Vortrag fand eine Diskussion seiner Thesen statt. Seine Erwiderung auf die Einwände hat er schließlich in einem Nachwort schriftlich ausgearbeitet. Dabei formuliert er einen Standpunkt, der als ein Zugeständnis an die Phänomenologie betrachtet werden kann. Hartmann wendet sich zunächst gegen die Auffassung, dass wir „bis auf die Sinne ‚gnoseologisch fensterlose Monaden’“ seien und nur durch das denkende Setzen und Deuten darüber hinausgreifen könnten. Damit kritisiert er die Auffassung, dass alle Erkenntnis von der Realität aus Sinnesdaten kausal erschlossen sei. (PdR 87) Der Eindruck, dass Hartmann in diesem Kontext mit seiner Lehre von der Realitätsgegebenheit durch „emotional-transzendente Akte“ die von ihm sonst vertretene Auffassung der Abgeschlossenheit des Bewusstseins revidiert, wird wenig später noch verstärkt, wenn er sich ausdrücklich gegen die Annahme einer ursprünglichen Abgeschlossenheit wendet. (PdR 91) Von einem "nachträglichen Durchbrechen der Subjektsgrenze könne für ihn keine Rede sein. Die „beliebte Vorstellungsweise, als wäre das Subjekt erst einmal in sich gefangen und müsste dann erst ausbrechen, um ein Realitätsbewusstsein zu gewinnen - eine Ansicht, die mir heute von mehr als einer Seite nachgesagt wurde -, ist die meinige nicht.“ (PdR 90) Hartmann ist sich also durchaus bewusst, dass seine Auffassung gewöhnlich anders verstanden wird. Es klingt daher wie eine Anerkennung der Intentionalitätsthese, wenn er fortfährt: „Es gibt kein wirkliches Bewusstsein, das nicht von vornherein aufgeschlossen im Zuge der Realgeschehnisse drinstände.“ (PdR 90) Die hier von Hartmann entwickelte Auffassung steht mit seiner Anerkennung des Satzes vom Bewusstsein anscheinend im Widerspruch. Es gibt jedoch eine einfache Deutungsmöglichkeit, den drohenden Widerspruch zu vermeiden: Phänomenologisch akzeptiert Hartmann die Lehre von der ursprünglichen Erschlossenheit der Welt; erkenntnistheoretisch hält Hartmann jedoch an der Bildtheorie und an der These von der Abgeschlossenheit des Bewusstseins fest. In der theoretischen Rekonstruktion muss der Ursprung von Erkenntnis so gedacht werden, dass von den realen Gegenständen herrührende Daten zu Bildern oder Vorstellungen verarbeitet werden und dadurch als Repräsentationen der Welt fungieren. Diese Repräsentationen sind (der Sache nach) das unmittelbar Gegebene und bilden eine in sich geschlossene Welt; da sie als Repräsentationen jedoch die Welt zu erfassen intendieren, sind sie im erkennenden Akt immer schon überschritten und daher als solche (für uns) nicht bewusst. Obgleich nur die Vorstellungen der Dinge unmittelbar gegeben sind, erkennen wir doch unmittelbar die Dinge der Außenwelt und nicht unsere Vorstellungen von ihnen. Hartmann deutet diese Auffassung an, wenn er sagt, dass eine solche „immanente Deutung“ in den Akten jedenfalls nicht bewusst erlebt wird. (PdR 92) Auch wenn seine Unterscheidung von „Haben“ und „Erfassen“ ganz in dieselbe Richtung weist, hat er diese Auffassung doch nicht klar formuliert. Es stellt sich daher nur allzu leicht der Eindruck ein, dass Hartmann in seinem Nachwort seiner früheren Auffassung widerspricht. (vgl. jedoch GdO 249) Fasst man Hartmanns Theorie in dem erläuterten Sinne, dann bedeutet sein Zugeständnis an die phänomenologische Intentionalitätslehre keine Revision seiner erkenntnistheoretischen Position.

Im dritten Teil seines Werkes Zur Grundlegung der Ontologie (1935) rollt Hartmann die erkenntnistheoretische Problematik noch einmal auf und versucht seinen kritischen Realismus durch seine Lehre von der Realitätsgegebenheit durch emotional-transzendente Akte noch weiter zu fundieren. In diesem Kontext spielt auch seine Auseinandersetzung mit der Phänomenologie eine wichtige Rolle. Bereits in der Einleitung wendet Hartmann sich gegen den Verfall des Erkenntnisproblems im Psychologismus und Logizismus. Die verfehlte Gleichsetzung von Erkenntnis und bloßem Urteil findet er nicht nur bei den Neukantianern Cohen, Natorp, Cassirer und Rickert, sondern auch bei Husserl und Heidegger. (GdO 14) Sie alle unterschlagen die Transzendenz der Erkenntnis und geben damit die Differenz von wahr und falsch preis. Nivelliere man aber den Unterschied von Erkennen einerseits und bloßem Denken, Urteilen und Vorstellen andererseits, so „gelangt man zu dem Paradoxon einer ‚Erkenntnistheorie’, in der das eigentliche Erkenntnisproblem gar nicht mehr vorkommt.“ (GdO 15) Eine adäquate Phänomenanalyse führt demgegenüber nach Hartmann zu der Einsicht, dass der Erkenntnisgegenstand in seinem Gegenstandsein für das Bewusstsein nicht aufgeht, also gerade „übergegenständliches Sein“ hat. (GdO 15) Hartmann verteidigt damit die Annahme von Bildern noch einmal gegen die Angriffe der Phänomenologie. Dennoch gesteht er diesen Einwänden auch hier zu, dass das Bildbewusstsein in der unreflektierten Alltagserkenntnis nicht vorkommt. Ein solches Bewusstsein stelle sich eben erst nachträglich ein, wenn die Phänomene von Irrtum und Täuschung reflexiv verarbeitet werden. (GdO 16f, 249) Auch die Differenz von intentionalem und realem Gegenstand verteidigt Hartmann erneut. Intentionalität als Eigenschaft aller Bewusstseinsakte ist nicht dasselbe wie die Transzendenz des Erkenntnisaktes. (GdO 72, 148f) Damit wirft Hartmann der Phänomenologie eine Verfehlung des Erkenntnisphänomens vor und kritisiert Husserls Rückfall in einen „Idealismus neukantischer Färbung“. (GdO 235)

Hartmanns Kritik der Phänomenologie in der Grundlegung der Ontologie bewegt sich damit weitgehend in bekannten Bahnen. Die zentrale These aus dem Vortrag „Zum Problem der Realitätsgegebenheit“, dass das Bewusstsein von vornherein aufgeschlossen in Realverhältnissen drinstehe, wird jedoch nicht wiederholt. Stattdessen werden Schelers Ausführungen zum Idealismus-Realismus-Problem einer kurzen, aber scharfen Kritik unterzogen. Hartmann wendet sich gegen Schelers Auffassung, dass das Sosein eines Gegenstandes erkannt werden könne, ohne dass sein Dasein erkennbar sein müsse. Da nach Scheler das Sosein zwar „in mente“, das Dasein aber „extra mentem“ bestehen kann, zieht Hartmann daraus zunächst die Konsequenz, dass das erfasste Sosein gerade nicht das Sosein des An-sich-Seienden ist, sondern eben nur für uns, also „in mente“, besteht. (GdO 89) Die Spaltung des Erkenntnisgegenstandes in ein bloßes Dasein ohne Bestimmtheit und in ein nur in der Vorstellung bestehendes Sosein weist er jedoch als verfehlt zurück und betont dagegen, dass das, was an sich besteht, sehr wohl im Bewusstsein wiederkehren kann, und dass umgekehrt das, was vom Bewusstsein in einer bestimmten Weise vorgestellt wird, sehr wohl auch an sich so existieren kann. Da „Erkenntnis“ das Zutreffen einer Vorstellung auf eine Sache bedeutet, und da man nicht nur das Sosein, sondern auch das Dasein realer Gegenstände erkennen könne, gibt es daher Dasein und Sosein sowohl „in mente“ als auch „extra mentem“. (GdO 90f) Schelers Versuch, den Gegensatz von Idealismus und Realismus zu überwinden, wird somit von Hartmann als verfehlt zurückgewiesen. Trotz der Neutralität seines Ausgangspunktes in der Phänomenologie der Erkenntnis gibt es für ihn in der systematischen Theorie der Erkenntnis kein „diesseits von Idealismus und Realismus“, sondern einen „kritischen Realismus“.