2.1 Der Idealismus der Marburger Neukantianer
In der Metaphysik der Erkenntnis hat Hartmann, in ständiger kritischer Auseinandersetzung mit dem logischen Idealismus der Marburger Schule, einen erkenntnistheoretischen Realismus begründet und damit zugleich, nach eigenem Selbstverständnis, den Durchbruch zu einer neuen Ontologie vollzogen. (SD ) Die Position der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus spielt darin zwar eine geringere Rolle, doch soll natürlich auch deren Version des Idealismus durch seine Kritik getroffen werden. Da Hartmann sein Philosophieren als Neukantianer begann, war die Kritik des neukantianischen Idealismus für ihn geradezu identisch mit seiner philosophischen Selbstbehauptung.
2.1.1. Hermann Cohen
In der Logik der reinen Erkenntnis (1902) will Cohen, unter strikter Zurückweisung aller psychologischen und metaphysischen Fragestellungen, die Grundidee von Kants transzendentaler Logik konsequent entfalten und ein System der ursprünglichen, schöpferischen Erzeugnisse des reinen Denkens entwickeln, die aller empirisch-wissenschaftlichen Erkenntnis schon zugrunde liegen. Kants transzendentale Logik wird damit zur „Logik des Ursprungs“. (vgl. Cohen 1902, S.23, 28, 35f, 47; ferner H. Holzhey 1992, S.3) Da alles Denken und Erkennen sich im selbst geschaffenen begrifflichen Rahmen bewegt, wird der Gegenstand der Erkenntnis durch das Denken erst „erzeugt“ und alles Sein, von dem sinnvoll geredet werden kann, ist folglich ein „Sein des Denkens“. Cohen lässt damit auch die Anschauung als selbständige Erkenntnisquelle fallen. Die Schwäche von Kants Theorie sieht er gerade darin, dass Kant, trotz seiner Auffassung von Erkenntnis als „Synthesis“, von einem Dualismus von Denken und Anschauung ausgegangen sei und damit das Mannigfaltige der Anschauung als Voraussetzung des Denkens anerkannt habe. Für die konsequent durchgeführte transzendentale Logik, wie Cohen sie versteht, ist dagegen dem Denken nichts gegeben, sondern alle Gedankeninhalte müssen im Denken selbst erzeugt werden. (vgl. Cohen 1902, S.13f, 25ff, 33ff, 58; H.-L. Ollig 1979, S.33) Auch die Auffassung, wonach Denken ein Schaffen von Ordnung ist, ist nach Cohen verfehlt, weil sie auf dem Vorurteil beruht, dass dem Denken in den Empfindungen etwas vorgegeben sei, das es zu ordnen gelte. Aller Inhalt des Denkens muss vielmehr durch das Denken erzeugt werden. Als eine Verkennung des schöpferischen Charakters des Denkens und Erkennens kritisiert Cohen auch die Phänomenologie Husserls. Indem Husserl die Philosophie auf eine Beschreibung von Phänomenen verpflichten wolle, werde dem Denken ein von außen vorgegebener Inhalt zugemutet und damit die Souveränität des reinen Denkens verkannt. Da jedoch die Logik nach Cohen alle ihre Begriffsinhalte durch reines Denken selbst erzeugen muss, kann Phänomenologie keine Vorarbeit der Logik sein. (vgl. Cohen 1902, S.58; H.-L. Ollig 1979, S.33)
Gegen die idealistische Grundthese Cohens, dass alles Sein auf gedanklicher Setzung beruht, behauptet Hartmann die Unverzichtbarkeit der realistischen Auffassung, dass Erkenntnis ein Erfassen von An-sich-Seiendem ist und dass dieses Sein ganz gleichgültig gegen das Erkanntwerden ist. Der Cohenschen Konzeption stellt er die These entgegen, dass die „Logik der Erkenntnis“ das eigentliche Erkenntnisphänomen mit seinem Realitätsbezug gerade verfehlt und daher eine „Metaphysik der Erkenntnis“ nicht ersetzen kann. Gegen Cohen hält Hartmann ausdrücklich auch an der Autonomie der Wahrnehmung als Erkenntnisquelle fest. Zwar kann das Denken nach seiner Ansicht gegebene Empfindungen verschieden interpretieren, aber es kann sie nicht restlos in Empfindungen auflösen. Mit dieser Anerkennung des Dualismus von Wahrnehmung und Verstand kehrt Hartmann zu Kant und zur alltäglichen Auffassung zurück. Die Anerkennung der Wahrnehmung als eigenständiger Erkenntnisquelle impliziert für ihn zugleich eine „Phänomenologie der Erkenntnis“ als eigenständige philosophische Aufgabe.
2.1.2. Paul Natorp
In seinen Schriften Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften (1910) und Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme (1911) hat Natorp dem logischen Idealismus einerseits eine fast populäre Fassung gegeben und ihn andererseits der neuen Situation der zeitgenössischen Wissenschaften angepasst. (vgl. H.-L. Ollig 1979, S.43) Den Grundgedanken des logischen Idealismus hat Natorp als Korrelationsthese gefasst. Sein gibt es nur für das Denken, insofern jeder Gegenstand erst durch das Denken „gesetzt“ werden muss, um als bestimmt gegeben zu sein. Daraus ergibt sich die Korrelation von Denken und Sein: Mit jedem Denken ist ein Sein gesetzt, und mit jedem Sein ist ein Denken (voraus)gesetzt. Die Frage nach einen Sein außerhalb oder vor dem Denken ist nach Natorp ohne jeden Sinn. (vgl. Natorp 1910, S.48; Natorp 1911, S.13) - Gegen die Korrelationsthese hat Hartmann vor allem das Erkenntnisphänomen mit seinem Realitätsbezug ausgespielt. Der Realitätsbezug gehört für ihn zum natürlichen Begriff der Erkenntnis, der philosophischer Kritik standhält und der insbesondere auch durch den Hinweis, dass dem Bewusstsein zunächst nur seine eigenen Inhalte gegeben sind, nicht zu erschüttern ist. Nur wenn die Vorstellungen etwas abbilden oder repräsentieren, liegt eben nach Hartmann Erkenntnis vor.
Natorp hat das wissenschaftliche Selbstverständnis des Marburger Neukantianismus prägnant formuliert. Philosophie und Wissenschaft unterscheiden sich für ihn in der Hauptsache nur durch ihre entgegengesetzte Fragerichtung. Gegenüber der zunehmenden Spezialisierung und Vereinzelung der Wissenschaften ist die Philosophie nach Natorp um die Einheit von Erkenntnis und Wissenschaft bemüht. Das wissenschaftliche Verständnis von Philosophie erscheint bei Natorp in einer ungebrochenen optimistischen Form, wenn er behauptet, dass es keine Probleme gibt, die den Methoden von Wissenschaft und Philosophie grundsätzlich entzogen wären, und dazu ausdrücklich auch religiöse Fragen rechnet. (vgl. Natorp 1911, S.3, 7) – Hartmanns Unterscheidung von natürlicher und künstlich-philosophischer Fragestellung deckt sich nicht einfach mit Wissenschaft und Philosophie, sondern sie stellt Wissenschaft und Ontologie auf die eine Seite und Erkenntnistheorie und Psychologie auf die andere Seite. Das Verständnis von Philosophie als Wissenschaft hat Hartmann dagegen von den Marburgern übernommen, doch teilt er nicht die rationalistische Überzeugung der völligen Erkennbarkeit der Welt. Dass mit irrationalen Dimensionen des Realen zu rechnen ist, gehört für ihn zu den ontologisch relevanten Folgen des Realismus. Durchaus im Einklang mit der Marburger Konzeption von Philosophie als Wissenschaft lehnt Hartmann dagegen metaphysische Spekulationen um „letzte Fragen“ ab, wie sich z.B. in Lebens- und Existenzphilosophie finden.
Natorp hat den unbegrenzten Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis als Argument für die idealistische These der Unerkennbarkeit der Welt (an sich) gedeutet. Alle Erkenntnis der Welt ist eine Angelegenheit der empirischen Wissenschaften und unterliegt einem ständigen Wandel und Fortschritt. Die Gegenstände der Erkenntnis werden durch den Prozess des Erkennens zunehmend bestimmt, ohne jedoch jemals endgültig bestimmt zu werden. Kein jemals erreichter Standpunkt darf jemals als letzte, definitive oder absolute Erkenntnis betrachtet werden. Jede Seinsbestimmung ist eben nur ein Durchgangspunkt im endlosen Erkenntnisprozess, und das Sein selber bzw. der absolut bestimmte Gegenstand ist nur das unerreichbare, ideelle Ziel des Erkenntnisprozesses. Jede Behauptung eines absoluten Seins würde diesem Prozess ein Ende setzen. Daher bleibt nach Natorp das Ding an sich jeder möglichen Erfahrung unzugänglich. Die Wirklichkeit ist eben nie gegeben, sondern stets unendliche Aufgabe. (vgl. Natorp 1910, S. 34, 94, 391, 402; Natorp 1911, S.13f, 16, 32, 58f) - Hartmann hat die idealistische Deutung des Erkenntnisfortschritts entschieden abgelehnt. Die Vorläufigkeit und Unvollständigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis stützen nach seiner Ansicht gerade den Realismus, weil sich so der zunehmende Erkenntnisfortschritt ganz natürlich erklären lässt. Für ihn gibt es hier gerade keinen Anlass, den Realitätsanspruch wissenschaftlicher Hypothesen und Theorien idealistisch (oder instrumentalistisch) umzudeuten.
2.1.3. Ernst Cassirer
Sowohl in seiner Frühphase als auch in seiner Philosophie der symbolischen Formen (1923-39) hat Cassirer an der idealistischen Grundansicht festgehalten. Wie Natorp geht er von der Korrelativität von Begriff und Gegenstand aus, woraus für ihn die Unhaltbarkeit der Abbildtheorie folgt. Er wendet sich daher entschieden gegen die Auffassung, dass irgendeine Form von Selbstbewusstsein oder eine Innenwelt primär gegeben sei, aus der heraus eine Außenwelt erschlossen werde. Ichbewusstsein und Objektbewusstsein sind vielmehr gleichursprünglich, nämlich abstrakte Teilmomente einer begrifflichen Korrelation, die nicht metaphysisch gedeutet werden darf. Für den kritischen Idealismus gibt es daher nach Cassirer keine Kluft zwischen Subjekt und Objekt, die durch Erkenntnis überbrückt werden müsste. Das Objekt ist kein absolut Reales jenseits der Erkenntnis, sondern nur der Gegenstand, wie er sich in der fortschreitenden Erfahrung erst gestaltet. (vgl. Cassirer, 1910, S.369ff, 391ff, 395ff) - Für den Realisten Hartmann ist dagegen die Annahme der Unmittelbarkeit der Vorstellungen unverzichtbar, weil nur durch die Annahme von „Bildern“, die die Realität repräsentieren, die Phänomene der Sinnestäuschung und des Traumes erklärt werden können. Die von Cassirer als verfehlt betrachtete Fragestellung der realistischen Erkenntnistheorie, wie das Subjekt aus sich heraus zum Objekt gelangen könne, wird von Hartmann dagegen als echte Aporie der Erkenntnis anerkannt.
Als bleibende Errungenschaft der Marburger Schule betrachtet Cassirer die Widerlegung der Abbildtheorie der Erkenntnis. Die naive Auffassung, dass Erkennen eine bloße Wiederholung oder Nachbildung eines vorgegebenen Inhalts sei, wird nach Cassirer in zwei Schritten widerlegt. Den ersten Schritt vollziehen die Wissenschaften, indem sie die Gegebenheiten der Wahrnehmung mittels wissenschaftlicher Begriffe umformen und deuten und damit sinnliche Qualitäten wie Farben und Töne auf tiefer liegende Prozesse wie die Bewegung von Atomen zurückführen. Den zweiten Schritt vollzieht die philosophische Reflexion, indem sie zeigt, dass die von den Wissenschaften vorausgesetzten Urelemente des Seins, wie z.B. Atome, tatsächlich bloße gedankliche Schöpfungen sind, die die Erscheinungen erklärbar und berechenbar machen sollen. Während die Wissenschaften das An-sich-Sein der sinnlichen Qualitäten aufheben, durchschaut die Erkenntniskritik den instrumentellen Charakter wissenschaftlicher Begriffe. (vgl. Cassirer 1906, S.Vf, 1ff) Gegenüber dem Positivismus, der die Aufgabe der Erkenntnis auf die getreue Wiedergabe der Sinneseindrücke beschränken möchte, stimmen Realismus und kritischer Idealismus nach Cassirer darin überein, dass der Gegenstand der Erkenntnis nicht in der bloßen Empfindung gegeben ist, sondern durch das Denken erst gewonnen werden muss. Doch während der Realismus Erkenntnis als Erfassen eines An-sich-Seienden deutet, besteht die begriffliche Leistung des Erkennens nach Cassirer darin, einem gegebenen Inhalt einen neuen begrifflichen Gehalt aufzuprägen und damit einen gesetzlichen Zusammenhang erst zu schaffen. Den Fehler des Realismus sieht Cassirer also darin, die gedanklichen Mittel der Erkenntnis nicht als bloße Instrumente zu durchschauen. (vgl. Cassirer 1910, S.380, 392f, 395ff) - Den beiden Formen wissenschaftlicher und philosophischer Erkenntniskritik gibt Hartmann eine ganz andere Deutung. Während er mit Cassirer die durch die Wissenschaften geleistete Kritik des naiven Realismus als durchschlagend anerkennt, weist er die idealistische Kritik des Realismus als eine philosophische Übertreibung zurück. Anders als Cassirer und die Marburger sieht Hartmann keinen Grund, den Realitätsanspruch der Wissenschaften idealistisch oder instrumentalistisch umzudeuten.
Auch das Problem der Irrationalität der Welt findet nach Cassirer durch die Korrelativität von Begriff und Gegenstand seine Aufklärung. Geht man von einer realistischen Auffassung aus, dann lässt die Absonderung aller bekannten Eigenschaften von den Dingen zuletzt einen unverstandenen Rest übrig. Nach Cassirer ist dieser irrationale Rest jedoch nur der unvermeidliche Schatten des Gegenstandsbegriffs; er ist daher ein logisches Werkzeug der Erkenntnis und kein dunkles Jenseits. Einen Inhalt erkennen heißt, ihn zu einem Objekt umzuschaffen, indem man ein identisches, konstantes Objekt setzt. Wir erkennen also gegenständlich nur dadurch, dass wir innerhalb der Folge der Erfahrungsinhalte Abgrenzungen schaffen und dauernde Zusammenhänge als Objekte abheben. Alles, was der Realismus den Dingen an sich zulegt, erweist sich damit als notwendiges Moment im Prozess der Objektivierung. (vgl. Cassirer 1910, S.403f) - Für Hartmann ist die These vom irrationalen Rest keineswegs bloßer Widerschein des Gegenstandsbegriffs, sondern die für einen kritischen Realisten natürliche Vermutung, dass die Realität nicht ganz begriffen werden kann. Da die Welt gleichgültig gegen ihr Erkanntwerden ist, wäre es nach Hartmann naiv von ihrer völligen Erkennbarkeit einfach auszugehen.
2.1.4. Neukantianische Kritik an der Metaphysik der Erkenntnis
Nach dem Tod Cohens im Jahr 1918 machten sich bald Auflösungserscheinungen der Marburger Schule bemerkbar. Natorp und Cassirer gingen eigene Wege. Zugleich gab es auch gewisse Annäherungen an die Phänomenologie, wie zwei aus dem Umkreis der Marburger Schule stammende Rezensionen der Metaphysik der Erkenntnis verdeutlichen. Sie stammen von dem jungen Hans-Georg Gadamer und Heinrich Knittermeyer. Außerdem gibt es in den späteren Werken von Cassirer und Rickert bemerkenswerte Reaktionen auf Hartmanns realistische Erkenntnistheorie.
2.1.4.1. Hans-Georg Gadamer
Hans-Georg Gadamer hat in einer Rezension von 1923/24 Hartmanns Metaphysik der Erkenntnis als ein bedeutendes Werk gewürdigt. Hartmann habe die erkenntnistheoretische Tradition von Jahrhunderten auf ihre wesentlichen Inhalte reduziert und sich dabei um eine standpunktfreie Analyse von Problemen und Aporien bemüht. (Gadamer 1923/24, S. 350) Die Aporetik der Erkenntnis hält Gadamer für den bedeutendsten Teil von Hartmanns Schrift. Wenngleich Gadamer Hartmanns Aporetik mit ihrer Scheidung künstlicher und natürlicher Probleme lobt, wendet er sich doch gegen die Auffassung, als gebe es naturwüchsige Probleme unabhängig von philosophischen Fragestellungen. Auch die wirklichen Aporien sind nach Gadamer historisch bedingt, doch komme ihnen aufgrund der Forschungslage ein gewisser Vorrang zu. (Gadamer 1923/24, S.359; Gadamer 1960, S.357f) Erhebliche Bedenken hat er aber gegen Hartmanns „Phänomenologie der Erkenntnis“, da sie eine verzerrte Beschreibung des Erkenntnisphänomens liefere. Während Hartmann zwar zu Recht die Transzendenz zum Phänomen der Erkenntnis rechne, sei das von ihm postulierte innere Bild kein phänomenologischer Befund. Ferner wendet er sich gegen Hartmanns Auffassung von Subjekt und Objekt als ursprünglich geschiedener Seinssphären. Obwohl die phänomenologische Kritik am „Bewusstseinskasten“ nach Gadamer die Rede von einer Subjektsphäre problematisch gemacht hat, spiele die Vorstellung einer solchen Subjektsphäre in Hartmanns Theorie eine verhängnisvoll große Rolle. Insbesondere sei Hartmanns Annahme verfehlt, dass das Subjekt beim Erkennen „über sich hinausgreife“. Statt das Bewusstsein zu einer Innensphäre zu hypostasieren und dann die verfehlte Frage zu stellen, wie das Subjekt ein Objekt draußen erfassen könne, sei es vielmehr als Phänomen hinzunehmen, dass das Subjekt sich in und bei der Welt der Objekte immer schon vorfindet. (vgl. Gadamer 1923/24, S.347ff) Gadamer führt damit gegen Hartmanns Auffassung der Immanenz des Bewusstseins bereits die später von Heidegger vertretene These der „ursprünglichen Erschlossenheit von Welt“ an. Gadamer wendet sich ferner gegen Hartmanns isolierte Betrachtung des Erkenntnisphänomens. Dem Ideal des Maximums an Gegebenheit hätte Hartmann besser gerecht werden können, wenn er Erkennen als erkennendes Verhalten des Menschen in der Welt begriffen und damit das ganze menschliche Dasein miteinbezogen hätte. Hartmanns Beschränkung auf den metaphysischen Aspekt der Erkenntnis sei eine unzulängliche Abstraktion. Gadamers Urteil über die Bedeutung von Hartmanns Kritik des Idealismus ist nicht einheitlich. Einerseits erkennt er an, dass Hartmann den Phänomenen der Erkenntnis mehr gerecht geworden sei als der Idealismus, andererseits wirke seine Absage an den Idealismus jedoch kühn. (vgl. Gadamer 1923/24, S. 352f, 355, 359)
2.1.4.2. Hinrich Knittermeyer
Repräsentativer für den Marburger Neukantianismus ist die Kritik von Hinrich Knittermeyer. Anlässlich der zweiten Auflage der Metaphysik der Erkenntnis (1925) hat Knittermeyer eine Rezension verfasst, in der die negativ-kritischen Akzente klar dominieren. Knittermeyer wendet sich vor allem gegen Hartmanns Rechtfertigung des Realismus. Zunächst betont er, dass Hartmanns Kritik des Idealismus nicht durchschlagend sein könne, weil sie sich nur gegen eine unzulässig vereinfachte Form von Idealismus richte. Worin die Verzerrung des Idealismus jedoch bestehen soll, wird nicht weiter erklärt. Hartmanns Kritik des Neukantianismus wird damit als überspannt zurückgewiesen, und sein systematischer Standpunkt wird als naiv und dogmatisch abgelehnt. Der zentrale Einwand Knittermeyers besteht in dem Hinweis, dass Hartmanns Ausgehen vom natürlichen (und wissenschaftlichen) Realismus nur scheinbar neutral sei, in Wahrheit jedoch eine standpunktliche Vorentscheidung für den Realismus bedeute. Knittermeyer wirft Hartmann damit mangelnde Konsequenz in der Durchführung einer standpunktfreien Analyse des Erkenntnisproblems vor. Eine angemessene philosophische Analyse der natürlichen Einstellung findet Knittermeyer dagegen in Husserls transzendentaler Phänomenologie. (vgl. Knittermeyer 1925, S.496ff, 509ff) - Es ist bezeichnend für den Auflösungsprozess des Neukantianismus, dass Husserl hier als entscheidender Kronzeuge gegen Hartmann beschworen wird.
2.1.4.3. Ernst Cassirer
Ernst Cassirer hat Hartmanns Metaphysik der Erkenntnis mehrfach gewürdigt und kritisch kommentiert, am eingehendsten in dem 1927 erschienenen Aufsatz „Erkenntnistheorie nebst Fragen der Logik und Denkpsychologie“. Cassirer findet hier durchaus anerkennende Worte für Hartmanns neukantianisch-kritische Schulung und für sein Bestreben, seine Metaphysikkonzeption von jeder spekulativen Metaphysik abzugrenzen. (Cassirer, 1927, S.79) Kritisch fragt Cassirer jedoch, ob es Hartmann gelungen sei, seinen Anspruch einzulösen, das Erkenntnisphänomen rein als solches herauszuarbeiten. Dabei konzediert er zwar, dass die Beziehung auf den Gegenstand zum Phänomen der Erkenntnis gehört, doch betrachtet er die in der Erkenntnis gegebene Subjekt-Objekt-Relation als synthetische Einheit und als unlösbare Korrelation, die Hartmann vergeblich in selbständige Teile zu zerlegen versuche. Cassirer vermisst in Hartmanns ontologischer Deutung die Erörterung der grundsätzlichen Frage, ob Bedeutungsverhältnisse sich überhaupt auf Seinsverhältnisse zurückführen lassen. Der Ontologisierung von Subjekt und Objekt der Erkenntnisrelation hält Cassirer die Korrelativität von Begriff und Gegenstand entgegen. Außerdem wendet er sich gegen Hartmanns Anerkennung der Abbildtheorie. Erkenntnis als Abbild der Realität zu begreifen ist nach Cassirer der verfehlte, weil zirkuläre Versuch, die Fundamentalrelation der Erkenntnis durch eine spezielle Relation, die aus dem Inhalt der Erfahrung hergenommen sei, zu erklären. Das, was „Erkenntnis“ bedeute, lasse sich nicht auf objektive Verhältnisse zurückführen. Hartmann unterläuft nach Cassirer in diesem Zusammenhang der Fehler, die metaphorischen Ausdrücke für das Erkenntnisphänomen wörtlich zu verstehen und ihnen daher, wie z.B. der metaphorischen Redewendung von einem „Ergreifen“ des Gegenstandes durch das Ich, einen realen Sinn zu geben versuche. Um nicht dem „Zwang des figürlichen Denkens“ zu unterliegen, hält Cassirer eine Sprachkritik als Prolegomena der Metaphysik für unverzichtbar. (Cassirer 1927, S.81, 84, 86ff)
Im Kontrast zu dieser über weite Strecken moderat-kritischen Besprechung finden sich am Ende von Cassirers Ausführungen deutlich polemischere Thesen. So heißt es etwa, dass die Wiedergeburt der Metaphysik bei Hartmann statt klarer Lösungen nur ein „Gestrüpp von Aporien“ liefere und in einer „Skepsis, die zugleich Mystik“ sei, ende. (vgl. Cassirer 1927, S.90f.)
Eine Kurzfassung seiner Kritik der Abbildtheorie hat Cassirer in seiner Phänomenologie der Erkenntnis (1929), dem dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen, geliefert, ohne dabei auf Hartmann explizit einzugehen. Hier wendet er sich vor allem gegen die realistische Erkenntniskonzeption, die das Verhältnis von Erkenntnis und Gegenstand als ein quasi-räumliches Gegenüber von Diesseits und Jenseits des Bewusstseins versteht und Erkennen dementsprechend als ein „Hinausgreifen“ des Subjekts über sich begreift. Solche räumlichen Metaphern sind nach Cassirer verfehlt, weil die Erkenntnisrelation, wie er erkennbar gegen Harmtann einwendet, nicht eine ontische, sondern eine symbolische Relation ist. Die symbolische Beziehung des Meinens sei weder eine kausale Beziehung noch ontische Transzendenz, sondern Bedeutungstranszendenz. Der grundsätzliche Fehler der Abbildtheorie besteht nach Cassirer darin,ein prinzipiell unaschauliches Verhältnis durch ein Analogon aus der anschaulichen WElt erklären zu wollen, während sich die Eigenart der
Bedeutungskategorien gerade nicht als Seinsbestimmungen verstehen lasse. (Cassirer 1929, S.370, 376f, 379f) - Auf Hartmanns fragwürdige Metaphorik und sein sprachphilosophisches Defizit hat Cassirer zu Recht aufmerksam gemacht. Ob jedoch die (möglicherweise unvermeidliche) Metaphorik einer wie auch immer genau gefassten Abbildtheorie ein schlagendes Argument gegen den Realismus darstellt, scheint dagegen zweifelhaft. Weiterhin kann man Cassirer auch darin zustimmen, dass Hartmann den Unterschied von Bedeutungskategorien und Seinskategorien vernachlässigt hat und damit ein idealistisches Argument nicht analysiert hat.
Auf Hartmanns Metaphysik der Erkenntnis ist Cassirer an einer Stelle seiner Phänomenologie der Erkenntnis explizit eingegangen. Am Beispiel von Hartmanns Auffassung des Leib-Seele-Problems versucht er zu zeigen, dass der Versuch, die psycho-physischen Phänomene metaphysisch zu erklären, verfehlt ist. Bei Hartmann gehe die phänomenologisch unbezweifelbare Einheit von Leib und Seele verloren, sobald er sie gedanklich zu begreifen suche. Indem Hartmann ein irrationales Drittes hinter Leib und Seele postuliere, schließe er fälschlich auf eine Irrationalität des Seins, statt auf einen Mangel der Begriffe. (Cassirer 1929, S.379f) Die gedankliche Setzung eines irrationalen Dritten sei jedoch nur eine Wiederholung des alten Schemas der Einheit hinter den Gegensätzen, das nichts erkläre. Das, was als unlösbare Korrelation von Leib und Seele erlebt werde und in der „Sprache der reinen Ausdrucksformen“ adäquat beschrieben werden könne, sei auch durch die „Sprache der substantiellen metaphysischen Weltsicht“ nicht weiter zu begreifen. (Cassirer 1929, S.111-115) - Cassirer hat mit seiner Kritik an dem von Hartmann hypothetisch entwickelten neutralen Monismus ein schwaches Lehrstück der Metaphysik der Erkenntnis hervorgehoben. Unzutreffend ist jedoch, dass Hartmann von einer Irrationalität des Seins an sich gesprochen hätte, vielmehr bleibt für ihn Irrationales stets auf die menschliche Erkenntnisfähigkeit bezogen. Im übrigen hat Hartmann den neutralen Monismus im Rahmen seiner Schichtenlehre fallen lassen, ohne an seinem Realismus irgendetwas zu ändern.
2.1.4.4. Heinrich Rickert
Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit den neuen zeitgenössischen philosophischen Strömungen hat Heinrich Rickert in seinen beiden Schriften Die Logik des Prädikats und das Problem der Ontologie (1930) und Grundprobleme der Philosophie (1934) den Idealismus auch gegen Hartmann in Schutz genommen. Rickert verteidigt den Idealismus zunächst gegen psychologistische Missverständnisse. Der Idealismus reduziere keineswegs das physische Sein auf das seelische Sein, sondern erkenne innerhalb der Sinnenwelt körperliches und seelisches Sein an. Das vorgestellte oder bewusste Objekt dürfe daher nicht, wie die Formel „esse est percipi“ nahelege, als seelisches Sein gedeutet werden. Der Unterschied zwischen Körper und Seele sei ein ontologischer Gegensatz, der in der Erkenntnistheorie keine Rolle spiele. Körper und Seele sind nach Rickert in gleicher Weise erlebt bzw. bekannt. Der erkenntnistheoretische Idealismus ist daher keine spiritualistische Ontologie, sondern er behauptet lediglich, dass es unmöglich ist, den realen Gegenstand als unabhängig vom erkennenden Subjekt zu denken. Der Realismus irrt nach Rickert eben darin, dass er die Beziehung auf das Subjekt als unwesentlich betrachtet und dem Subjekt im Erkenntnisprozess lediglich die untergeordnete Rolle des Abbildens zuschreibt. Zum Erkennen gehört für ihn nicht nur ein zu erfassendes reales Objekt, sondern auch ein Subjekt, das durch eigene Faktoren den Erkenntnisprozess wesentlich mitbestimmt. Erkennen ist daher kein Abbilden, sondern ein „Umbilden der gegebenen Anschauung durch nicht-anschauliche Faktoren des Denkens“. (Rickert 1934, S.37, 48f) – Die These der Subjektbedingtheit aller Objekte stützt nach Hartmann keineswegs den Idealismus, weil die Korrelation von Subjekt und Objekt das An-sich-Sein der erkannten Gegenstände (Objekte im weiteren Sinne) nicht ausschließt. Auf Hartmanns These, dass die Transzendenz, also der Realitätsbezug, zum Erkenntnisphänomen gehört, geht Rickert nicht ein.
Rickert akzeptiert zwar Hartmanns Auffassung, dass alles Erkennen auf Seiendes gerichtet ist, doch er bestreitet, dass Seiendes mit An-sich-Seiendem gleichzusetzen ist. Der Begriff des Dinges an sich als Gegenstand der Erkenntnis dürfe nicht einfach vorausgesetzt werden. Gegen Hartmanns Argument, dass der Gedanke von etwas Transzendentem zwar immanent bleibe, aber sehr wohl etwas Transzendentes meinen könne, äußert sich Rickert merkwürdig vorsichtig, wendet dann aber ein, dass die Gegenüberstellung von Gedanke und Transzendenz eine unhaltbare Alternative sei, weil das Seiende, das durch Gedanken erfasst werde, kein Transzendentes oder kein An-sich-Sein sein müsse. Zwischen dem bloßen Gedanken und dem transzendenten Jenseits stehe vielmehr das „diesseitige Sein der Welt“. (Rickert 1930, S.174ff) - Die fragwürdige Überspitzung Hartmanns, dass alles Erkennen ein Erfassen von Ansichseiendem sei, hat Rickert treffend markiert. Gegen Hartmann wird man wohl daran festhalten müssen, dass es auch von bloßen Erscheinungen Erkenntnis gibt. Fraglich ist jedoch Rickerts Auffassung, dass die „diesseitige Welt“ eine eigenständige Zwischensphäre zwischen Bewusstsein und (bewusstseinsunabhängiger) Realität darstelle.
Rickert hat sich auch gegen die von Scheler und Hartmann unternommenen Versuche gewendet, den Realismus durch das Widerstandserlebnis zu begründen. Gegen diese Auffassung, dass das Subjekt die Realität im Widerstand unmittelbar erlebt, wendet er ein, dass es in der Erkenntnistheorie nicht auf das Verhältnis des Willens zu der von ihm unabhängigen Realität ankomme, sondern auf das Verhältnis des erkennenden Subjekts zu dieser Realität. Da auch die vom Willen unabhängige Realität vom Subjekt erkannt oder vorgestellt werden müsse, bleibt die idealistische Deutung in Kraft. Als eine bloße Frage der Terminologie betrachtet es Rickert in diesem Zusammenhang, ob man die Subjektbedingtheit mit dem Ausdruck „im Bewusstsein“ bezeichne oder ob man weniger missverständliche Ausdrücke wie „gegeben“, „erlebt“, „vorgefunden“ oder „bekannt“ verwende. Entscheidend ist für ihn allein, dass Erkenntnis stets „für ein Subjekt“ ist. (Rickert 1934, S.50f) - Ob das Widerstandserlebnis als Argument für den Realismus tatsächlich relevant ist, kann mit Rickert bezweifelt werden. Kommt man dem Idealismus soweit entgegen, dass man die Realität der Außenwelt für beweisbedürftig hält, dann können auch die Widerstandserlebnisse die Realität wohl kaum beweisen. Akzeptiert man dagegen einen (kritischen) Realismus, dann passen auch die Widerstandserlebnisse in das realistische Gesamtbild der Welt.
2.1.4.5. Hartmanns Replik
Die Metaphysik der Erkenntnis enthält vor allem Hartmanns Abrechnung mit dem neukantianischen Idealismus. Nach dieser Auseinandersetzung hatte der Idealismus für ihn offenbar „ausgespielt“. In seinen weiteren Schriften taucht der neukantianische Idealismus als ernstzunehmender Gegner nur noch am Rande auf, zumal erkenntnistheoretische Themen in der Folge ohnehin weitgehend zurücktreten. Nach der zweiten Auflage seiner Metaphysik der Erkenntnis (1925) hatte Hartmann an weiteren Auseinandersetzungen mit neuen Versionen des neukantianischen Idealismus kein besonderes Interesse mehr.
Die erste Gelegenheit, auf die neukantianischen Einwände zu reagieren, hatte Hartmann in der zweiten Auflage der Metaphysik der Erkenntnis. Doch er hielt offenbar nur die Einwände von phänomenologischer Seite für bedeutend genug, um sie auf eigens einzugehen. (MdE 106) Dies ist verständlich, da auch Gadamers Kritik stark phänomenologische Züge trug. In seinem Vortrag „Das Problem der Realitätsgegebenheit“, den Hartmann 1931 auf Einladung der Kant-Gesellschaft vor einem Kreis bekannter zeitgenössischer Philosophen - darunter Heinz Heimsoeth, Theodor Litt und Helmut Plessner - hielt, geht er im Zuge seiner Verteidigung des Realismus auch gelegentlich auf den neukantianischen Idealismus ein. Hartmann wiederholt dabei jedoch weitgehend nur seine bereits bekannten Argumente, wenn er als Grundfehler des Idealismus die Verkennung der Differenz von Sein und Objektsein kritisiert. Idealistische Argumente, wie etwa das Zirkel-Argument, werden nur noch beiläufig erwähnt, weil Hartmann diese Einwände anscheinend als erledigt betrachtet. (PdR 9ff) In diesem Vortrag nimmt er freilich genau die thematische Erweiterung des Erkenntnisproblems vor, die Gadamer bereits 1923/24 in seiner Rezension angemahnt hatte und die zwischenzeitlich auch von Heidegger in
Sein und Zeit geleistet worden war: Hartmann verankert nun das Erkenntnisproblem im allgemeinen Lebenszusammenhang und verknüpft damit seine Lehre von den „emotional-transzendenten“ Akten. (PdR 15ff, 31f) Wenngleich Gadamer und Heidegger in dieser Phase der Marburger Schule nahestanden, dürfte diese Weiterentwicklung von Hartmanns Erkenntnistheorie doch vor allem auf den Einfluss des Phänomenologen Max Scheler zurückgehen. Eine Einfluss des Neukantianismus auf Hartmanns Erkenntnistheorie liegt daher hier ebenso wenig vor wie in seiner Grundlegung der Ontologie von 1935, wo Hartmann im dritten Teil das Thema „Die Gegebenheit des realen Seins“ wieder aufnimmt und weiterentwickelt. (GdO 139-222) Auch sein 1949 fertig gestellter, aber erst 1955 veröffentlichte Aufsatz „Die Erkenntnis im Lichte der Ontologie“ bringt im zweiten Teil, im Kontext einer Erläuterung der Grundthesen der Metaphysik der Erkenntnis, noch einmal eine Auseinandersetzung mit bekannten idealistischen Argumenten, ohne dabei jedoch etwas wesentlich Neues zu bieten. (I 128ff) Insgesamt kann damit das Resümee gezogen werden, dass der neukantianische Idealismus in Hartmanns Denken nach der Metaphysik der Erkenntnis zunehmend an Bedeutung verloren hat. Der späte Hartmann redet vom Neukantianismus fast wie von einer überwundenen Kuriosität der Philosophiegeschichte.